„Meine Situation ist in der That eine kritische“
Zu Weihnachten schalte ich das Funding fürs Deutschlandbuch frei und bin durchaus aufgeregt. „Meine Situation ist in der That eine kritische“ – um mit Fontane zu reden. Den zitiere ich weder aus literarischer Großtuerei noch Liebhaberei. Frappierend kommen mir einige biografische Parallelen zu dem einstigen Pharmazeuten vor, von dessen berühmten Romanen ich – Schande über mich – keinen je zu Ende las.
„… in der That….“ – diesen Satz schreibt Theodor F. im Jahre 1878. Als kritisch beurteilt er seine finanzielle Lage, hat er sich doch ganz aufs literarische Schaffen verlegt. Brieflich wendet er sich nun an Freunde, Bekannte, Kritiker und Verleger, um Unterstützung einzuwerben. Seinen sicheren Beamtenjob ließ er zwei Jahre zuvor, mit 56 Jahren, sausen. Schreiberfahrung hat er vor allem als Journalist, Lektor und Reisereporter.
Fontanejahr 2019 - und trotzdem interessiert mich der Theodor
Wenn ich 2019 durch Deutschland fahre, wird mich Fontane ständig begleiten. Es ist „Fontane-Jahr“, leider. Der gute Theodor fließt bald aus allen Medienkanälen; dazu kommen Feste, Vorträge, Veranstaltungen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich allgemeine Fontane-Übersättigung einstellt.
Jubiläen von Literaten sind allemal nicht mein Ding. Zudem befeuerte das 2018 einsetzende Crescendo der Fontane-Lobpreisung meine literarischen Vorurteile. Aber als gebürtiger Brandenburger gehört der Theodor in Sachen neue Bundesländer nun mal zum Pflichtprogramm der Recherchen für mein Buch über Deutschland. Im Dezember lies ich mir aus dem Magazin der Stadtbibliothek, stationiert auf jenem kuriosen inselgleichen Appendix Mecklenburgs, eine angejahrte Fontane-Biografie kommen. Deren Lektüre machte mich vom „Pflichtleser“ zum Fontane -Bewunderer.
SichImmerWiederNeuErfinden - schon im 19. Jahrhundert
Fontane war ein Tausendsassa. Aber ich meine damit weniger den Typus „Universalgelehrten“, der in den Generationen nach Fontane sowieso nach und nach ausstirbt. Ich meine Fontanes Mut, mit dem biografisch und beruflich Vorgezeichneten zu brechen, um in Zeiten gesellschaftlicher und medialer Umbrüche seinen Leidenschaften Raum zu geben und beharrlich an deren Verwirklichung zu arbeiten. Derartige Brüche bilden später ja vielfach Angelpunkte seiner Romane.
Als Apothekersohn tritt Fontane zunächst in die Fußstapfen des Vaters, hängt im Alter von 29 Jahren aber den Apothekerkittel an den Nagel. Dem Leben als Autor und Lektor, geführt seit zehn Jahren, aber nur im Nebenerwerb, widmet er sich nun mit mehr Kräften. Mit 31 Jahren arbeitet er parallel als preußischer Pressereferent und Gesandter sowie als freier Autor. Für Berlin bildet fast eine Dekade lang London seinen Arbeitsmittelpunkt, zuerst in Intervallen, nach der Umsiedelung gänzlich. Gegen Ende seiner England-Aufenthalte, mit 38 Jahren, kommt Fontane die Idee zu groß angelegten Reisereportagen. Seine berühmten „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beginnt er ein Jahr später, 1859, also mit knapp Vierzig.
Einschub zu mir selbst: Als RadelnderReporter® debütiert ich im Alter von 37 Jahren, auf meinem ersten selbst gekauften Rennrad. Nicht über den Text, aber über die 2004 längst veraltete Unterrohrschaltung des Pinarello mokierte sich die Redaktion, als sie die Bilder des mich begleitenden Fotografen zu Gesicht bekam.
Mit 56 Jahren – inzwischen mehrfach als Kriegsreporter unterwegs gewesen und sogar gefangen – lässt Fontane sich 1876 in Berlin verbeamten, bittet jedoch im gleichen Jahr um Entlassung. Als freier Autor gerät seine finanzielle Lage nun „in der That“ zu einer kritischen.
Jetzt erst, im Jahr 1878, erscheint sein erster Roman. Weil Fontane geschickt und fleißig mit seiner in vielen Jahren konsolidierten Fan-Gemeinde kommuniziert, schafft er den Sprung zum Vollblut-Romancier, veröffentlicht bis zu seinem Tod 1898 zehn Romane bzw. Novellen.
Ach ja, Fontane, dieser Urdeutsche…. – stimmt gar nicht! Häufig übersehen wird, dass Fontane Preuße mit Migrationshintergrund ist: der Vater hugenottischer Flüchtling. Nach jüngeren Erkenntnissen besitzt die Mutter ebenso französische Wurzeln.
Überspitzt gesehen bin ich auch Einwandererkind: Meine Oma väterlicherseits kam aus Thüringen, meine Mutter aus Sachsen nach „Westdeutschland“ und lebt in Coburg. Wenn ich von dort am 21. Juni 2019, dem „längsten Tag“ des Jahres, ungefähr entlang der einstigen Interzonen-Bahnroute nach „Ostdeutschland“ hineinradle, ist gut möglich dass sich das ein wenig anfühlt wie Nach-Hause-kommen.
Zu den Abbildungen:
- Unten stehende Lithografie Fontantes fertigte Max Liebermann 1896 an. Den Grünstich habe ich am Rechner eingefügt, um die zeitliche Parallele zur Aufnahme des Radrennfahrers (ganz oben) zu betonen. Dessen S/W-Fotografie - abgebildet ist der Österreicher Franz Gerger - wurde im Jahr 1898 abgedruckt (bibliografische Angaben siehe https://www.startnext.com/alle16laender-2200km-radreport?inc_id=228540#rid-228540)