Von der allmählichen Verfertigung eines Opernführerartikels ...
...bei einer Vorstellung
Vor einigen Tagen war ich in den Gezeichneten in Hannover. Aus zwei Gründen: Erstens, das ist eine meiner Lieblingsopern, eine von mehreren, von vielen (einige meiner Freunde behaupten, ich hätte nur Lieblingsopern, aber das stimmt nicht, ich könnte mindestens zwei Opern nennen, die mir nicht gefallen…) – und, zweitens, ich musste noch den Artikel für Casta Diva schreiben.
Seit ich 2002 die Gezeichneten in der Regie von Martin Kušej in Stuttgart erlebt habe, bin ich dieser Oper von Franz Schreker mit Haut und Haaren verfallen. Es sang – und keiner kannte sie damals – die junge Eva-Maria Westbroek die Monsterrolle der Carlotta. Man hätte schon mit Taub- und Blindheit geschlagen sein müssen, um in diesem Augenblick nicht zu ahnen, dass da eine Weltkarriere begann. Keine der Carlotten, die ich seither hören durfte – nicht einmal Catherine Naglestad in München vor zwei Jahren – hatte dieses Nervenzerfetzende und zugleich Hörigmachende, das dieser Rolle einer femme fragile et fatale en même temps so sehr entspricht …
Karine Babajanyan, die Carlotta in Hannover, ist eine großartige Sängerin, aber sie ist – sorry – eine „warme“ Sängerin mit warmer, farbig grundierter Stimme und köstlicher Bühnenpräsenz. Ich liebe ihre Aida und mehr noch ihre Cio-Cio-San, aber sie ist nicht „meine“ Carlotta. Und das ist eben Glück und Verhängnis einer Operntunte, die in die Jahre kommt: Es gab da einmal the perfect match, und das ist einfach nicht mehr einholbar, auch wenn man es immer wieder versucht.
Die Regie der Hannover’schen Gezeichneten ließ mir durch gepflegte Langweiligkeit genug Raum, diesen und anderen Gedanken nachzuhängen. Ich habe im Laufe der Arbeit gemerkt, wie sehr ich selber davon profitiere, scharf über ein Werk nachdenken zu müssen, selber zu begreifen, was ich vermitteln will. Wo war nun der schwule Bezug in dieser vor Sexualität und Verbrechen, Männlichkeit und Weiblichkeit ja nur so strotzenden Oper? Ein Krüppel, der sich selber so hasst, dass er sich Sex und Liebe verbietet. In ihn verliebt sich eine herzkranke Malerin, aber er kann sein Glück nicht fassen und ihr deshalb nichts geben. Und so wendet sie sich seinem Gegenstück zu, einem selbstbewussten supervirilen Hunk, der sie am Ende buchstäblich zu Tode vögelt. Das ist heute noch so krass wie bei der Premiere 1918!
Immer wieder sind wir in den letzten zwei Jahren gefragt worden, was denn nun das Schwule an so einer Oper sein könnte. Und darauf kann ich nur sagen: Eben das! Ein Mann, der sein Begehren und seine Wünsche so weit von sich abspaltet, dass sich in den unterirdischen Grotten Orgien abspielen, aber an der Oberfläche nur Reinheit und Schönheit übrigbleibt! Eine junge Frau, die weiß, dass der Sex sie umbringen wird, und die sich dennoch mit solcher rauschhaften Lust einem Mann hingibt und ihr Leben voll auskostet, indem sie es aufgibt! Muss man wirklich erklären, was das mit schwuler Existenz zu tun hat?
Man muss – jedenfalls dann, wenn man einen Opernführer schreibt. Und so einfach lässt sich das dann gar nicht hinschreiben. Subjektivität macht einen angreifbar. Ich hatte dann doch noch den einen oder anderen seriösen Einfall für meinen Artikel. Das lässt sich aber alles im Buch nachlesen …
Sven Limbeck