MAN NENNT IHN SÜNDER - ER IST MEIN SOHN JOHANNES
Lieber Johannes!
Wie sehr war früher jedes Rennen eine Hochschaubahn für mich mit meinem Wettkampfblut! Ein Wettlauf von einem Streckenabschnitt zum nächsten ...
Wie schnell wirst du da sein? 1 Stunde 20 wird das Ganze bis zum Zieleinlauf dauern! Kaum auszuhalten. Und heute ist ein guter Tag für dich. Du lächelst in der Hocke abfahrend bei jeder Runde zu uns rüber. Dein athletisch schöner Laufstil war über all die vielen Jahre so kraftvoll geworden, dass du augenscheinlich für mich zu den allerbesten der Welt gezählt hast.
Mit 14 Jahren hast du dich für das Schigymnasium in Stams entschieden. Zwei harte Aufnahmetest hintereinander hast du herausragend gemeistert, zuerst in Schladming, dann mit dem Rucksack weiter nach Stams. Ab dieser Zeit warst du selten zu Hause – alle heiligen Zeiten halt. Schule, Training und Rennkalender waren aufeinander abgestimmt und dazwischen war kaum Luft.
Wo liegt Stams und wo Göstling? Weißt du selbst noch wie viele Zugstunden und Umstiege es für eine Fahrt in einer Richtung gebraucht hat? Ein so schwerer Wachselkoffer, der fast die Finger beim Tragen abgezwickt hat!
Und dann 2014: Ferdi und ich sitzen mit dir im Flieger, zum zweiten Mal in zwei Wochen. Sotschi! Olympia! Wir kommen noch rechtzeitig zum Biathlonrennen, feiern später im Österreicherhaus den 2. Platz von Katrin Zettel, den Sieg von Mario Matt. Marcel Hirscher und Putin, der russische Präsident werden erst nach Mitternacht kommen. Ferdi und ich warten nicht so lange. Schließlich ist uns dein Rennen morgen, 50 km Skating, wichtiger. Beim Aufwachen und der Vorfreude auf das Kommende rufst du uns bereits um 7.45 an. Toll! Erste Infos für unseren Tagesplan! Weeeeeiiiit gefehlt!!! Die Sonne ist schon aufgegangen. Es wird heute warm werden. Ferdi nimmt deinen Anruf am Handy entgegen.
Dann höre ich: „Du startest nicht. Nie wieder.“
Er wiederholt alles sehr langsam. Oder höre ich seine Worte so langsam. Die Zeit steht still.
„Seit wann?“
Egal. Völlig egal. Ich begreife. Aber es kommt nicht in meinem Herzen an. Keinen Augenblick hatte ich eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen. Du hast Doping mit einer solchen Vehemenz abgelehnt, dass es für mich nicht am Radar war.
„Willst du mit Johannes sprechen?“
Ferdi reicht mir das Handy übers Bett. Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja verstanden. Vorbei! Aus! Jede Qual, jede Entbehrung, und das waren ganz viele von meiner und deiner Seite, jedes gemeinsame an der Piste stehen, mit und ohne den netten Fans, die schon Familie für uns waren, alles umsonst und vorbei. Aus. Aus. Vorbei.
„Na red halt“ so Ferdi.
„Ja Johannes, ich kenn mich aus. Wie geht’s dir? Wo bist du jetzt? Sollen wir gleich kommen?“ … so Verlegenheitsfloskeln.
„Redest du jetzt auch nicht mehr mit mir?“, die Gegenfrage.
„Wieso?“ meine Rückfrage.
Bitter musste ich die Tragweite deiner Frage dann über die Jahre mitansehen:
Von den oft stundenlangen Gesprächen und Telefonaten mit dem Trainer, mit Markus Gandler, oder den Teamkollegen, war ab diesem Augenblick alles auf Null.
Kein Anruf, kein Kontakt, kein klärendes oder helfendes Gespräch seitens der Schi-Familie, die Dich viele Jahre aufgebaut hat.
Du erzählst mir ein ganzes Jahr lang von den täglichen Bemühungen irgendjemand aus dem ÖSV zu erreichen. Ich erinnere mich vage an zwei oder drei Telefonate mit Herrn Leistner, der danach keinen der vereinbarten Termine eingehalten hat oder nicht durfte.
Aber zurück: Ich sitze ja noch in Sotschi im Bett. Katharina, die älteste Tochter, ist mitgeflogen, kommt zu uns ins Zimmer. Wir sind alle drei wie gelähmt. Die Familie ist immer eng verbunden und wir tauschen bald unsere Betroffenheit miteinander aus. Keiner aus der Familie hatte davor eine Vermutung.
Johannes wird um 11.00 ins Flugzeug gesteckt. Wir wollen mitfliegen. Markus, der Nordische Sportdirektor, telefoniert kurz mit uns und verspricht uns einen raschen Termin für unseren Rückflug.
Wir warten! Die Hotelbesitzerin oder Verwalterin spricht einige Worte Englisch und hat die Situation erfasst, in der wir drei sind. In ihrer liebenswürdigen Art bringt sie zu Mittag eine Suppe und Brot für uns. Am Bildschirm des Fernsehers laufen drei Russen zum Sieg. Na ja, heute ist das egal!
Kein Anruf. Keiner erreichbar. Du sitzt sicher schon im Flieger nach München und wir kommen hier nicht weg.
Ich dränge darauf, dass wir unsere Sachen packen und zum Österreich-Haus mit einem Taxi fahren. Dort sind alle anzutreffen. Irrtum. Während dessen kommt der Anruf von Herrn Epplinger von der NÖN.
„Ja. Wir sind geschockt. Warum hat er das genommen? Na, keine Ahnung. Aber es ist mein Sohn. Und wir werden ihm helfen, aus diesem Desaster herauszukommen!“
Ja. Mein Sohn. Viele Mütter werden sich diese Liebe immer in Erinnerung rufen können, Sohn bleibt Sohn. Eine Mutter ist schwanger, trägt das Kind viele Monate, bringt es zur Welt, stillt das schönste Baby der Welt, durchwacht Nächte, lernt ihm Sprechen, hilft ihm beim Gehen-Lernen …
Aber jetzt ist er nicht erreichbar. Das Handy haben sie dir abgenommen. Deine Perspektiven sind weg. Da ist niemand, der dich jetzt auffängt. Du bist nicht vorbereitet auf diesen Schlag. Meine Sorge und übermächtige Angst: Wirst du dir das Leben nehmen?
Schreien, weinen! Wer hilft? Ist da jemand? Mein Gott, hilf!! Ich kann nicht mit dir reden, dich nicht rütteln, nicht umarmen. Was hat dich, du grundehrlicher Kerl, dazu veranlasst, zu solch einem Zeug zu greifen? Wo bleibt die Verantwortung des Trainers und des Sportdirektors Gandler, dich und alle Sportler davor zu schützen? Wenn einer schon jahrelang in der Branche beheimatet ist und ihm fällt bei seinem besten Athleten nicht auf, dass die Leistung eventuell nicht sauber ist, dass Verhaltensweisen auffällig sind? Mit welchen Dilettanten oder Wegschauern habe ich es hier dann zu tun? Wem habe ich hier meinen Sohn anvertraut?
Als Mutter vertraute ich dem ÖSV meinen wertvollen Schatz an und einen Verachtungswürdigen bekam ich dann ‒ nicht zuletzt von dir, Markus, verbal blaugeprügelt!! Woher nahmst du dir das Recht dazu?! ‒ vor die Füße geworfen? Was hat das System nur zu verbergen, frage ich mich bis heute, dass mit so einer Theatralik und einer Lynchjustiz vorgegangen wurde?
„Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast“ so der Dichter Antoine de Saint-Exupéry im seinem Buch „Der kleine Prinz“. Respektvollen und wertschätzenden und beschützenden Umgang müssten wir uns als Eltern, vor der Übergabe unserer Kinder in die Obhut der Spitzensportverantwortlichen, bescheinigen lassen.
Wir fliegen erst am nächsten Tag zurück. Qualvolle Stunden der Ungewissheit bis zur Abfahrt zum Flughafen. Dort sehen wir die Sportreporter im der Abflughalle an einem Tisch sitzen. Wir grüßen. Herr Berger vom ORF grüßt zurück. Alle anderen verdrehen Augen und Kopf.
Wir kennen uns aus. Verachtung könnte so aussehen. Ein Vorgeschmack auf das was noch kommen sollte.
Herr Berger bittet uns an einen freien Tisch zu einem Gespräch, wenn wir das wünschen. Ja. Endlich irgendeine Möglichkeit etwas zu erfragen. Wir erfahren vom ORF-Interview mit Johannes und dass Johannes eine Entschuldigung an uns Eltern und an seine Frau in der Livesendung vor dem Abflug gegeben hat. Mir schießen die Tränen aus den Augen, als ich das Interview sehe. Ich erkenne dich fast nicht!
Heute, vier Jahre später, habe ich einen differenzierteren Zugang zum Leistungssport. Übertragungen von Schirennen oder Schispringen waren früher Pflichttermine vor dem Fernseher. Begeistert schaute ich mir die Künste der Sportler an. Für mich sind sie Künstler. Die Körperbeherrschung, die Überwindung und auch oft die Freude am Tun haben mich in den Bann gezogen. Doch die schmerzhafte Erfahrung gibt tiefere Einblicke in Spitzensport-Wahrheiten preis. Da hört man von Top-Sportlern, die nach einer schweren Verletzung nur wenige Monate später wieder an die Spitze fahren oder wie viel Muskelmasse auf einmal im Sommertraining aufgebaut werden konnte. Heute zweifle ich da und dort an der „Sauberkeit“! Aber egal. Dich haben sie medial ermordet, gnadenlos haben einflussreiche Personen ein „Todes-Urteil“ über dich gefällt, es vollstreckt und sich ihrer eigenen Verantwortung, in genau dieser Sache „sauber“ entzogen.
Lieber Johannes! Nach Sotschi hatte ich mein Studium abzuschließen. Ich weiß nicht, wie weit ich meinem Muttersein damals gerecht geworden bin: dich zu beschützen, dich vor Ausbeutern zu schützen, vor respektlosen Menschen zu warnen, dich im Schmerz besser zu trösten.
Nun spüre ich die Freude und die Kraft wieder, die in dir ist. Dein Schmerz, das nicht ausdrücken zu dürfen, war auch mein Schmerz. Jeder verdient Chancen und nicht nur eine zweite. Wir sind dem Mittelalter ja doch entwachsen!
Was mir nicht möglich ist, das ist, dich mit den nötigen finanziellen Mitteln zu unterstützen. Du musstest immer schon sehr karg Spitzenleistungen bringen.
Aber ich weiß: Du kannst das!
Auf! Danke, dass du den Weg wagst.
Deine Mama