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Das #dScholarship ist das erste demokratische Stipendium. Ein Experiment und erster Schritt zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Wir wollen wissen: Arbeiten die Menschen anders, kreativer, effizienter, wenn man sie von Existenzängsten und Druck befreit?
Finanzierungszeitraum
22.04.14 - 20.10.14
Realisierungszeitraum
Januar 2015 bis Dezember 2015
Website & Social Media
Mindestbetrag (Startlevel): €
18.000 €
Stadt
Berlin
Kategorie
Community
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03.03.2015

Januar – über Enttäuschung und Vertrauen

Van Bo Le-Mentzel
Van Bo Le-Mentzel9 min Lesezeit

Der Januar sei Jennifer Wood, Ursula Scherzinger, Ali Azimi und Marc Solterbeck gewidmet – weil sie ihn mir ermöglicht haben.

Januar, mein erster Monat als D-Scholarship-Fellow - eine Lektion über Enttäuschung und Vertrauen

Berlin, 3. Februar 2015
Es ist 8:49 Uhr, Prof. Henri schläft in seinem blauen Kinderwagen. Ich sitze in der Espresso Lounge - wie an fast jedem blaugrauen Morgen - in der Bergmannstraße. Doch diesmal verknote ich meine Beine ineinander. Ich friere. Mir ist kalt und ich wundere mich darüber, warum mich gestern abend im ICE ein Schüttelfrost heimgesucht hat. Und das, obwohl ich dick bekleidet war, ohne Sorgen war und gar im Gegenteil: Ich war erleichtert. Denn gestern konnte ich eine mittelgroße Katastrophe abwenden. Ich war gestern (so wie an jedem Montag) in Hamburg an der Uni. Dicke Luft. Krisenmeeting. Einige Studenten haben sich beschwert. Viele kämen mit der Freiheit, die wir zum zentralen Kern unseres Lehransatzes machten, nicht zurecht. Einer forderte sogar Hausaufgaben und 90 Minütige Vorlesungen. Glücklicherweise hat die Mehrheit dagegen argumentiert und als
wir über die Einführung von Anwesenheitspflichten und Pflichtaufgaben abgestimmt haben, hat dann interessanterweise keiner mehr die Hand gehoben. Es ist so eine Sache mit der Freiheit. Es haben sich einige wenige darüber beschwert, dass sie nichts machen. Sich nicht herausgefordert fühlen, sich künstlerisch nicht weiterentwickeln. Ein Student namens Stefan Auster*, der Architekt, der noch nebenbei als Nachhilfelehrer arbeitet, pflichtete bei: "Dann geh doch in die Werkstätten oder besuche die anderem Klassen in der HFBK, wenn Du Dich langweilst." Der Stefan ist ein guter Mann, obgleich er von den letzten vier Montagen nur an einem Tag da war. Warum? Leute wie
Stefan machen eigenständig Projekte. Ihm muss keiner in den Hintern treten. Doch was ist mit den anderen?
Ist das meine Aufgabe: Den Menschen in den Hintern zu treten? Nun gut: Ich verfolge ja seit kurzem die Philosophie: Jeder soll das bekommen, was er will. Aber er muss auch mit den Konsequenzen leben!
Also habe ich mir ein intensives Coachingprogramm ausgedacht: Friends Of Tens. Eine Art kreatives Bootcamp. Zehn Wochen lang. Für zehn Studierende.
Ohne Unterbrechung begleite ich zehn Studierende in ihrer künstlerischen Entwicklung. Ich vergebe jede Woche eine Aufgabe, die so umfassend ist, dass der sogenannte "Tenner" tatsächlich auch eine Woche braucht, um sie zu lösen. Wer pausiert, fliegt aus dem Programm. Die Belohnung: Wer die zehn Wochen durchhält, wird mit einer zehnmonatigen Freundschaft belohnt, wo ich dem Tenner Hilfe jeglicher Art zusage. Das kann ein kreatives Coaching sein, das kann eine Karriereförderung sein bis hin zu Kapitalbeschaffung für Projekte. Ich bin nun eine Art Business Angel - nur für's Studium: Ein Education Angel. Ein Coach für das edukative Abenteuer: Ein Adventure Capitalist.
Meine Hoffnung: Wer erstmal
in diesen Wochenrhythmus gekommen ist, wird auch nach zehn Wochen weiterhin produktiv bleiben.
Ich bin eigentlich gegen solche Drills. Aber die Leute sollen das bekommen, was sie wollen. Man könnte die ersten vier Wochen auch als eine Niederlage deuten. Es war nicht so, dass meine "Crowducation"-Erfindung einhellig Zuspruch fand und sofort aus jedem Studenten ein Genie machte. Ich bin mir auch nicht sicher, ob mein bedingungsloses Vertrauen in diese fremden Talente goutiert wird, oder gar als blockierend wahrgenommen wird. Wie dem auch sei. Nach einem Momat eine eher enttäuschende Bilanz.

Grenzen

Manchmal muss man auch Grenzen setzen, das ist auch eine Sache, die ich in diesem Monat erfahren habe. Eines Abends begegnete ich einem
zersausten Mann auf einem
schwarzen Holländerfahrrad. Ich war schon fast zu Hause. Der Mann hatte einen Zettel in der Hand und brüllte die Fußgänger mit einer vernuschelten Aggressivität an. Die meisten duckten sich weg. Er tat mir
leid. Auf dem Zettel stand eine Adresse: Mehringdamm, Mehringhof.
Der Mann schrie mich an: "Wo ist das. Wo verdammt nochmal
ist das? Ich kann nicht lesen. Wo ist das? Ich muss noch vor 21 Uhr einen Schlafplatz bekommen. Ich haue Ihnen in die Fresse."
Da ich ja als alter Marketingfuchs gelernt habe, dass Kunden nie das brauchen, was sie suchen, sondern eigentlich etwas anderes, habe ich ihn natürlich nicht zum Mehringhof gelotst, sondern gefragt, was er denn im Mehringhof zu finden hofft? Eine Obdachlosenznterkunft. Aha. "Ich bin behindert, ich kann nicht lesen. Helfen Sie mir!"
Da ich wusste, dass es im Mehringhof keine Obdachlosenunterkunft gibt, wohl aber in der Gneisenaustraße hinter der Tankstelle viele Obdachlose vor einem Familienzentrum rumlungern habe ich ihm den Weg dorthin beschrieben. Das Zentrum lag schräg gegenüber. "Ich weiss nicht was gerade aus ist und wo links ist" schnauzte der Mann mich an und forderte: "Können Sie mich hinbringen und es tut mir leid, dass ich geflucht habe."
Also gab ich mir einen Ruck und begleitete ihn dahin. Es waren nur zwei Blocks an Fußweg und ich dachte mir, dass es eine gute Idee ist, als Obdachloser ein Fahrrad zu fahren. "Das habe ich mir gekauft von meinem Betreuungsgeld. Bitte, wenn Sie mich am Montag anrufen, dann will ich Ihnen einen Euro geben, weil Sie mir helfen'" sagte er und nahm die Nase zwischen Zeigefinger und Daumen und rotzte eine ungehörige Portion sozialen Abschaum aus der angeschwollenen roten Nase.
Ich lächelte und lehnt sein Angebot ab und kam mir in dem Moment vor wie ein Heiliger. Als wir in dem Familienzentrum waren, lernte ich Uwe, den Schichtleiter kennen. Ah ein Profi. Ein Sozialpädagoge. Jemand, der erfahren ist im Umgang mit solchen Fällen. Ich war froh darüber, meine Pflicht getan zu haben und veranschiedete mich von dem Mann mit der Holländerfahrrad. "Ich heisse Mahnke." sagte er zu mir und schaute mich böse an. Ich habe diesen Blick als Freundschaftsangebot gedeutet und verweigerte ihm die Hand zum Abschied zu geben. Als ich gehen wollte, hörte ich beiläufig im
Gespräch zwischen Uwe und Mahnke, dass Mahnke nicht in dem Zentrum übernachten könne. Es sei keine Obdachlosenunterkunft, sondern ein Wohnheim für Alkoholiker, und alle Zimmer sind besetzt. Das heisst, er müsse mit dem Kältebus abgeholt werden und in die nächste Obdachlosenunterkunft nach Reinickendorf gebracht werden. Das wäre nicht das Problem. Notalls würde es auch ein Krankenwagen oder die Polizei tun. Das Problem wäre das Fahrrad. Das müsste natürlich hierbleiben. Das wollte Mahnke verständlicherweise nicht. Mobilität ist ein hohes Gut. Darauf sollte man nie freiwillig verzichten.
"Bitte bringen Sie mich hin!" forderte Mahnke Uwe auf. Dass das unmöglich war, begriff auch Mahnke schnell. Also kam ich wieder ins Büro und bot an, ihn zumindest zum Bahnhof Yorckstraße zu begleiten. Das wäre etwa 20 Minuten zu Fuß. Es war kalt und dunkel und ich vermisste meine Frau. Ich versprach Mahnke, ich geh mal schnell nach Hause und hol mein Fahrrad und dann bring ich Dich zum Bahnhof Yorckstraße. "Nein, gehen Sie nicht. Bitte bleiben Sie hier. Und bitte verzeihen Sie,
dass ich so geflucht habe." sagte Mahnke und setzte sich auf den Stuhl neben mich, das kam mir zu nah.
Ich stand auf und ging und nickte dabei Uwe zu. "Ich habe Angst, dass er nicht wiederkommt." sagte Mahnke mit einer leisen brummigen Stimme. Ich entgegnete ihm mit einer Zuversicht, die mich selbst ein wenig verwunderte:"Mahnke, du musst mir jetzt einfach vertrauen. Ich komme wieder."
Als ich zuhause war, sagte ich meinem Schatz noch kurz Hallo, erklärte ihr die Situation und stieg auf mein rotes Postfahrrad und fuhr zum Familienzentrum. Es hat sich nach einer intensiven Telefoniererei herausgestellt, dass Mahnke einem bestimmten Behindertenheim in Prenzlauer Berg angehört. Aus welchen Gründen auch immer hatte er für eine Nacht Hausverbot bekommen. Doch er wolle da nicht zurück, sagte Mahnke. Ich eskortierte ihn auf den dunklen Straßen Kreuzbergs zum Bahnhof Yorckstraße und wunderte mich, wie gut und sicher Mahnke fuhr. Und das, obwohl er einen Flachmann geleert hatte in der letzten halben Stunde.
Am Fahrstuhl bat mich Mahnke, mit ihm mitzufahren. Er wolle in Schöneberg in eine Klinik für Behinderte. Die Adresse wisse er nicht. Ob ich mit ihm diese Klinik aufsuchen könne. Das hätte mich sicherlich noch mal zwei Stunden Zeit gekostet, die ich meiner Familie wegnehmen würde. Er meinte, er war da schon mal, da irgendwo in der Fregestraße. Soll ich das tun? Er würde das ohne Hilfe sicherlich nicht finden. Und Mahnke wirkt angsteinflößend. Verständlich, wenn Passanten ihm ausweichen würden. Ich schrieb mit einem blauen Filzmarker auf einen Zettel: Hilfe, ich bin behindert und kann nicht lesen. Ich suche eine Klinik in Schöneberg.
Ich schrieb es mit grossen Lettern, sodass man den Zettel auch aus Entfernung lesen kann, eine Alkoholfahne als Distanz musste die Typo schaffen. Ich drückte ihm den Zettel in die Hand und wünschte ihm Glück. Eine gestalterische Lösung für eine soziale Angelegenheit. Noch nie hatte das Modewort Social Design besser gepasst zu meinen Tätigkeiten wie diese. Es ist durchaus möglich, dass Mahnke das Krankenhaus nicht einfach findet. Vermutlich nur auf Umwegen. Doch er wird es schaffen. Das traue ich nicht nur ihm zu, sondern auch den Menschen auf der Straße. Dass es jemanden geben wird, der ihn nicht hängen lässt.
Mahnke bat mich noch ein weiteres Mal, ihn zum Bahnhof Schöneberg zu geleiten. Ich sagte entschieden: Nein, das schaffst du ohne mich. Er drehte sich um und die Fahrstuhltür schloss. Ich wollte ihm noch zuwinken, doch er drehte sich nicht um. Womöglich habe ich ihn enttäuscht.
Ich dachte auf der Heimfahrt darüber nach, dass das Leben voller Enttäuschungen ist. Wir enttäuschen andere. Andere enttäuschen dich. Doch die Person, die dich am meisten enttäuschen kann, bist du selbst. Und der einzige Weg da raus ist mehr Vertrauen. Auch gegenüber Wildfremden manchmal. Darin, dass sie ihr Ziel aus eigener Kraft stemmen können. Und vor allem in dich selbst, dass alles gut ist wie du bist. Auch wenn es Enttäuschungen gab.

Video: https://vimeo.com/116524480 Meine Utopie-Interviewserie von Filmfabrique für LemonAID

Weiterer Dank:
• an Silke Helfrich, die mir die Januar Monatskarte für Bus und Bahn gestiftet hat und meine Mobilität ermöglicht hat.
• an Holger Koch, Frank H., Ronald Engert, Martin Jäger und Milena Steinmetzer für die Windeln

* Name geändert

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28.11.14 - Save the date! 29./30. Januar 2015 in...

Save the date! 29./30. Januar 2015 in Berlin. D CLASS CONFERENCE - New Education for a New Economy. Mit vielen inspirierenden Speakern u.a. Ben Paul (Anti-Uni), Stefania Druga (HacKIDemia), Milena Glimbovski (Original Unverpackt) und Menschen aus der Online-Tutorial Szene (iversity). Das ist das allererste Projekt, welches ich im Rahmen des #dScholarships realisieren will. Wer mag mitmachen und helfen? [email protected]

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