Crowdfunding since 2010

Ein Dokumentarfilm über Geschlechtergerechtigkeit und Prostitution in Deutschland, wie es bisher keinen gegeben hat.

AUFBRUCH wird ein Dokumentarfilm, der an die Wurzeln geht: Ronja (Studentin und Ex-Prostituierte) erzählt ihre Geschichte. Zuschauer:innen begleiten sie durch ihre Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter. International renommierte Expert:innen berichten über die Auswirkungen des Systems Prostitution. Welche Visionen haben wir für mehr Gerechtigkeit und einen liebevolleren Umgang miteinander? Musikalisch untermauert wird das Thema im Film mit einem Song der Liedermacherin Sarah Lesch.
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Funding period
1/31/22 - 3/13/22
Realisation
Anfang 2020 bis Mai 2022
Website & Social Media
Minimum amount (Start level): 5,000 €

Die Summe des Startlevels ist für den Feinschnitt und visuelle Optimierungen gedacht. (Zusammenarbeit von Cutter, Regie, Illustration)

City
Wiesbaden
Category
Movie / Video
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02.03.2022

Die Unsichtbaren Männer

Matthias Gathof
Matthias Gathof23 min Lesezeit

Ich freue mich sehr euch an dieser Stelle ein Interview mit der feministischen Aktivistin Elly Arrow präsentieren zu dürfen. Ihre Arbeit "Die Unsichtbaren Männer" hat uns bei der Filmarbeit zu dem Thema sehr geholfen.

Liebe Elly, erzähle uns kurz wer bist du und was du so in deinem Alltag machst.
Ich bin Aktivistin, Bloggerin und YouTuberin unter dem Namen Elly Arrow. Seit 8 Jahren beschäftigt mich das Thema Gewalt gegen Frauen und ganz besonders die Prostitution, seit 6 Jahren bin ich dazu politisch aktiv. Ich studiere und arbeite und betreibe in meiner Freizeit verschiedene Medienprojekte und Social-Media-Kanäle rund um das Thema Prostitution, mit einem Fokus auf der Rolle der Freier.

Wo liegen deine Berührungspunkte mit Prostitution?
Ich habe als Teenagerin langsam verstanden, dass Frauen und Männer im 21. Jahrhundert in Deutschland lange nicht so gleichberechtigt sind wie ich angenommen hatte, sondern dass die Unterdrückung der Frau sich mit der Zeit zwar in einigem verbessert hat, viele Relikte und Machtstrukturen aber weiter währen. Das ist in keiner Weise abstrakt: Ich war schockiert zu erfahren, wie viele meiner Freundinnen und weiblichen Bekannten und Verwandten massive Gewalt durch Männer und Jungs erlebt hatten. Belästigungen, Gewalt- und Selbstmord-Drohungen, Körperverletzung – auch von schwangeren Frauen, Vergewaltigungen, Rachepornografie, sog. „Kinderpornografie“ bis hin zur gefilmten Gruppenvergewaltigung von einem Mädchen in meiner vermeintlich so sicheren, so „zivilisierten“ überschaubaren Heimatstadt. Dabei fiel mir auf, dass diese Schwerstverbrechen immer wieder gefilmt und online gestellt wurden. Und auch, dass bestimmte sexuelle Praktiken ausgeführt wurden, die ich mir nicht erklären konnte.
Die Vorträge der Pornoforscherin und Feministin Gail Dines waren für mich dann Schlüsselerlebnisse: Gewalt gab es ohne Zweifel schon vor Zeiten der allgemein zugänglichen Hardcore-Internet-Pornografie, aber viele Täter werden davon durchaus inspiriert, spielen nach, normalisieren das Filmen von Gewalttaten. Dines erklärt auch die Nuancen – sprich dass viele Jungs schon mit 10, 11, 12 über Hardcore-Pornografie stolpern, teils verstört, teils fasziniert, sich dort Handlungen abgucken, die sie, wenn sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, auch ohne böse Absicht replizieren. In diesem Graubereich erleben also Mädchen und Frauen, dass sie von ihnen Sexualpartnern z.B. ins Gesicht ejakuliert wird, dass sie gewürgt werden oder dass Analsex ohne Vorbereitung und vorher Nachfragen plötzlich initiiert wird. Es ist also nicht alles schwarz-und-weiß, aber es war für mich enorm besorgniserregend, da ich es so in meiner direkten Umgebung wiederfinden konnte.
Über die Beschäftigung mit der Pornografie, kam die Frage auf, wie Pornos überhaupt produziert werden. Dabei habe ich schnell gelernt, dass Pornodarstellerinnen sich i.d.R. außerdem auch prostituieren (müssen). Und zum Thema Prostitution (und in kleinerem Maße auch Pornoproduktion, da es nun sehr nahe beieinander liegt) musste ich nicht bis ins sogenannte „Porn Valley“ („Pornotal“) in die USA gucken, sondern einfach vor die Haustür: Bei der näheren Beschäftigung mit der Prostitution in Deutschland wurde mir mit der Zeit klar, dass die Vorstellung von der „Nymphomanin“ die das „Hobby zum Beruf“ macht nichts als Propaganda und Werbestrategie der Industrie ist und, dass Ausbeutung, Gewalt und Menschenverachtung trotz (oder teils auch wegen) der Legalisierung Alltag sind. Wenn man bei diesen Themen einmal richtig hingeguckt hat, lässt es einen nicht mehr los. Mich hat es so sehr beschäftigt, dass ich Tatendrang bekam und mich nach ca. 2 Jahren ausführlichem Informieren, sprechen mit Betroffenen und anderen ExpertInnen, entschlossen habe zum Thema öffentlich aufzuklären.

Wie bist du auf die Idee für "Die Unsichtbaren Männer" gekommen?
Bei der Aufklärung konzentriere ich mich meistens auf die Freier, da man sich über die Frauen (und wie viele Prozent jetzt Menschenhandelsopfer, wie viele Armutsprostituierte und wie viele tatsächlich freiwillig Anschaffende sind) den Mund fusselig reden kann und nirgendwo ankommt. Motiviert dazu hat mich ein großartiger Vortrag der Prostitutionsaussteigerin und Aktivistin Huschke Mau zum Thema Freierforen – also Internetseiten wo sich Freier über ihre Prostitutionsnutzung austauschen und Frauen bewerten, so wie andere ein Amazon-Produkt. Sie hat damals viele wichtige Zusammenhänge aufgezeigt und unweigerlich das Publikum auch schockiert mit den Inhalten und bei mir blieb das Gefühl, dass dieses Wissen und die Diskussion um die Freier unbedingt in die breite Öffentlichkeit muss. Für mich ist klar, dass Anschaffen nichts Verwerfliches ist, wenn dann gefährdet die Frau höchstens sich selbst – die Kernfrage ist: „Darf ich Sex kaufen?“ oder werden dabei Normen verletzt, die wir (vermeintlich) aufgestellt haben, um einvernehmlichen Sex von Gewalt abzugrenzen.
In mehreren anderen Ländern (Großbritannien, Kanada, Frankreich, Israel, Italien, Australien/Neuseeland) gibt es sogenannte „Invisible Men“ Projekte, die nichts anderes machen als die Worte von Freiern aus diesen Internetseiten zu teilen. Wiedergabe, ohne großen Kommentar. Urteile können LeserInnen selbst fällen. Es gab vor 4 Jahre noch kein größeres deutschsprachiges Projekt, also beschloss ich eins anzulegen – daraus wurde „Die Unsichtbaren Männer“. Mit Erlaubnis von Huschke basierte es ursprünglich auf ihrem Vortrag und ich fügte dann mehrere hundert weitere Zitate hinzu – alle versehen mit Hashtags, um zu zeigen, dass die Inhalte keine Einzelfälle sind und dass sich klare Muster abzeichnen.

Wer sind die unsichtbaren Männer?
Die „unsichtbaren“ Männer (DUM) sind nach eigenen Angaben oft in einer Partnerschaft. Es ist auch nicht so, dass dies stets „erkaltete“ Ehen sind, viele sind noch mit der Partnerin sexuell aktiv, sie will nur nicht bestimmte Praktiken (z.B. Analverkehr) umsetzen oder er „braucht Abwechslung“. Viele könnten auch One-Night-Stands oder Kurzzeit-Beziehungen haben, aber es ist ihnen zu viel Arbeit Frauen beeindrucken zu müssen, sie haben keine Lust zu „investieren“ wenn die Frau doch jederzeit „Nein“ sagen kann. Von Einsamkeit, Kuscheln wollen und Gesprächsbedarf kann nicht die Rede sein, es geht um „Sex auf Knopfdruck“. Ansonsten stammen Freier aus allen gesellschaftlichen Schichten, Einkommensklassen, Altersgruppen, politischen Gesinnungs-Gemeinden, etc. – wobei die mit etwas mehr Bildung überrepräsentiert sind, denn es kostet ja Geld, wenn auch nicht viel in Deutschland – mit 40€ kann man in manchen Puffs schon eine halbe Stunde Oral und Vaginalverkehr kaufen, auf dem Strich gibt es auch noch Preise die deutlich darunter liegen.
Die krasse Anspruchshaltung der Freier, die mit der Zahlung einher geht, macht sich deutlich, wenn sie Frauen beschimpfen („Abzockfotze!“) oder Frauen bedrängen, die ihre Erwartungen nicht erfüllen. Die Art, wie über Sex gesprochen wird, ist oft aggressiv und entwürdigend, Frauen sind natürlich wiederholt „Nutten/Huren“, ihre Geschlechtsteile sind auch gerne mal „Löcher“ und es geht darum „einzuknüppeln“ und „abzuspritzen“. Es zeichnet sich ein deutlicher Rassismus ab, wobei seltene „Ware“ (westeuropäische Frauen) mehr wert ist als die „Billigware“ (Osteuropäerinnen, Migrantinnen, etc.) und wo ungeniert auf der Basis von Ethnie und Hautfarbe fetischisiert wird. Besonders junge Frauen (18-19), schwangere Frauen, trans* Frauen… alle werden behandelt wie „Geschmacksrichtungen“. Eine Minderheit Freier zielt auf Frauen ab, die erkennbar (drogen-)krank sind und/oder obdachlos, weil sie ihnen besonders ausgeliefert sind.
Die Körperteile von Frauen werden im Detail bewertet, sprich – Gesicht, Figur, aber auch Enge der Vagina, Größe und Form der Brüste und des Hinterns. 1-5 Sterne oder 1-10 Punkte Systeme sind normal. Dies ist ein ganz konkretes Machtinstrument, das den Männern ermöglicht Frauen, die sich weniger unterordnen, das Einkommen zu reduzieren oder sie im Extremfall aus dem Geschäft zu drängen. Freier tauschen dabei auch gerne Bilder aus, die meist aus der Prostitutionswerbung stammen, aber manchmal auch selbst geschossen werden – einige legen sog. „Schon gefickt“-Alben an. Die Profilbilder der angemeldeten Nutzer selbst zeigen oft Körperteile von Frauen – Nahaufnahmen ihrer Genitalien oder Hintern oder Gesichter auf die ejakuliert wurde.
Man findet auf Freierforen unzählige Berichte, die deutlich machen, dass Freier – oft besser als die Durchschnittsgesellschaft – über die prekären Verhältnisse in der Prostitution Bescheid wissen: Sie wissen um die bittere Armut in den Familien und Heimatländern der meist migrantischen Frauen, die wiederholt weder Deutsch noch Englisch sprechen; sie wissen, dass viele Frauen zu Alkohol und Drogen greifen, um die ungewollten Berührungen und Penetrationen zu ertragen; sie beobachten mit eigenen Augen immer wieder Zeichen von Menschenhandel und stehen manchmal dem Zuhälter sogar gegenüber – bis 2017 machte sich ein Freier bei der bezahlten Vergewaltigung eines Menschenhandelsopfers allerdings auch nicht strafbar (und auch danach sind bis heute keine Verurteilungen bekannt). Eine Minderheit zeigt auch Mitleid mit der Situation der Frauen, aber nur selten hält es sie davon ab eine Frau „auszutesten“.
Abgesehen davon, dass viele Freier sich bewusst sind, dass Frauen ihnen Lust und Orgasmen vortäuschen und in Wahrheit gar keinen Sex mit ihnen hätten, wenn sie das Geld nicht benötigen würden, geben Freier auf den Foren wiederholt zu auch Gewalt anzuwenden. Frauen, die daliegen wie „Puppen“, „Eisblöcke“ oder „Leichen“ werden oft einfach weiter penetriert, trotzt starker Zeichen von Dissoziation. Einige Freier verweigern die Kondomnutzung trotz konkreter Aufforderung oder suchen sich eine Frau, die das Geld so dringend braucht, dass sie ihre Gesundheit – ihr Leben – aufs Spiel setzt. Andere Frauen zeigen Schmerzen, was ebenfalls oft übergangen wird. Manchmal werden Frauen, die nicht „kuschen“, einfach festgehalten und vergewaltigt. In Extremfällen beteiligen sich Freier nach eigenen Angaben am sog. „Einreiten“, wenn Frauen, die Opfer von Zuhälterei sind, psychisch durch brutale Serienvergewaltigung gebrochen werden, so dass sie bei den „Normalo“-Freiern Gehorsam zeigen.
All das lässt sich auf der Webseite nachlesen, belegt mit vielen Beispielen. Hinzu kommen eine Analyse der Inhalte, Informationen zu Verbrechen in legalen deutschen Bordellen, Statistiken zu Freiern und zu Frauen in der Prostitution, Informationen zur Methodik und die Begründung, warum ich die Preise in den Berichten zensieren musste (Prostitutionsaussteigerinnen warnten mich, dass Steuereintreiber Informationen über vermeintlich hohe Einkommen von Frauen gerne benutzen um sie zu bedrängen, dem Staat seinen Teil abzugeben).

Wie hat sich “Die Unsichtbaren Männer” bis jetzt entwickelt?
Es gibt das Projekt inzwischen auch auf YouTube, wo ich einige der Inhalte der Webseite in Videoform umgesetzt habe, für alle die sich keine dutzenden Zitate antun wollen und auch damit die Informationen von anderen AktivistInnen oder Interessierten zur Aufklärung genutzt werden können. Außerdem ist DUM inzwischen auf Facebook, Twitter und vor allem Instagram – dort ist das posten der Zitate sehr viel einfacher und schneller als auf WordPress, weshalb viele neuere Zitate nur dort zu finden sind. Also z.B. solche, die die Corona-Pandemie behandeln oder auch jetzt den Krieg in der Ukraine. Allerdings betreibt Instagram auch viel Zensur – explizite Inhalte sind dort nicht willkommen, auch nicht zum Zweck der Aufklärung. Instagram hat bereits Beiträge gelöscht und mir sogar vorgeworfen, ich würde Prostitution „bewerben“. Absurd und sehr ärgerlicher, aber so arbiträr sind Internetplattformen (tatsächliche Prostitutionswerbung wird gerne stehen gelassen).
Doch insgesamt hat das Projekt viel Resonanz gefunden – ich bekomme viel positives Feedback, ich habe andere Menschen inspiriert ähnliche Projekte für ihr Land oder ihre Region zu starten, die Inhalte werden anderswo zur Aufklärung genutzt – genau wie beabsichtigt – und letztes Jahr wurde das Projekt sogar im Fernsehen bei 3sat erwähnt. Die Angriffe von Leuten die es entwerten oder gelöscht sehen wollen, nehme ich auch als Kompliment, dass ich mithelfe es der Pro-Prostitutions-Lobby in Deutschland unbequem zu machen.

Wie wissenschaftlich valide sind die Erkenntnisse der Freierforschung?
Wissenschaftlich belegen lässt sich im Bereich Freierforschung leider wenig, denn das Feld an sich ist kaum existent – besonders in Deutschland wird kaum hingeguckt. Ausführlichere Studien gibt es für Großbritannien, die USA und einige andere Länder, aber in Deutschland wird höchstens nach der Kondomnutzung gefragt. Manchmal erstellt die Pro-Prostitutions-Lobby-Umfragen, die natürlich stets zu dem Ergebnis gelangen, dass Freier nett und harmlos sind und natürlich alle ganz fleißig Menschenhandel melden. Vieles was ich zum Thema veröffentliche wird angegriffen, weil ich es nicht zweifelsfrei belegen kann. Hinter „wo sind eure Zahlen?“ verstecken sich viele Leute – auch PolitikerInnen – und, wie die Aktivistin Inge Kleine sagt, so sind alle fein raus, denn wer nicht nachforscht, der findet auch nichts.

Wie repräsentativ sind die Beiträge in den Freierforen?
Es stimmt, dass nur eine Minderheit von Freiern auf den Foren regelmäßig aktiv ist und „Rezensionen“ über Frauen schreibt. Diese Gruppe versteht sich als sogenannte „Hobbyisten“ – also Sexkauf als Hobby, so wie andere vielleicht Fischen gehen oder Malen. Gleichzeitig – und das kann ich sehen anhand dessen, wie viele Nutzer mit Account versus „Gäste“ auf den Webseiten unterwegs sind – lesen sehr viele andere Freier stumm mit, weil sie diese Rezensionen nutzen um Frauen auszuwählen, die ihren Vorlieben und Anforderungen entsprechen, auch wenn sie selber nicht mitreden. Jeder Mitleser, der die Nachfrage nach diesen menschenverachtenden Bewertungen stellt, ist also mit verantwortlich für die misogyne Kultur dieser Foren.
Hinzu kommt, dass die Profiteure der Sex-Industrie, die Werbewebseiten für Prostitution betreiben, regelmäßig eine Sprache verwenden, die sich mit den Freierforen deckt. Wenn es den durchschnittlichen Freier also gar nicht interessieren würde welchen ethnischen Hintergrund eine Frau hat – warum wird es in der Prostitutionswerbung dann stets hervorgehoben (ganz abgesehen davon, dass auch Bordelle mitunter segregiert sind nach „Rasse“)? Wenn es keine Vorliebe für jüngere oder auch jugendlich anmutende Frauen gäbe, warum müssen sich viele Frauen in der Werbung selbst infantilisiert präsentieren? Wenn pornofizierte Sprache die Mehrheit von Freiern abschreckt, warum sprechen dann auch Bordellwerbeseiten häufig so? Warum muss jede Frau in ihrem Werbeprofil bis aufs kleinste Detail Infos über ihren Körper mitteilen (Gewicht, Konfektionsgröße, Brustgröße, Haarfarbe, Tattoos, Piercings, OPs, Intimrasur – oft gleich mit halbnackten oder auch ganz nackten Fotos, damit sie „begutachtet“ werden kann), wenn Freier einen „Service“ kaufen wollen und keine Körper?

Empfindest du die Recherche in Freierforen als Belastung und wie gehst du damit um?
Ja, die Inhalte sind unweigerlich belastend. Ich mache auch immer wieder längere Pausen – auch mal ein halbes Jahr. Ich erstelle eine Reihe Grafiken und gucke eine Weile in kein Forum rein – die Grafiken veröffentliche ich dann Stück für Stück. Zitate, die ich schon kenne schockieren weniger als Neue. Außerdem gibt es auf einigen Foren auch eine Menge Pornografie und verstörende Bilder, die vergisst man noch schlechter als Worte. Ich versuche also Bilder zu vermeiden – muss auch nochmal einen guten Blocker dafür suchen. Ansonsten habe ich das Glück mit vielen Menschen in Kontakt zu stehen, die am selben Thema arbeiten. Ich kann also, wenn mich etwas belastet, mit anderen darüber sprechen. Außerdem gibt mir der Eindruck, dass viele Menschen dieses Thema doch interessiert, dass sie doch gewillt sind hinzugucken, Kraft weiter zu machen, da ich nicht ins „Nichts schreie“, sondern meine Arbeit Gehör findet.

Hat sich dein “Männerbild” durch diese Arbeit geändert?
Lange habe ich auf diese Frage geantwortet mit „aber ich habe auch gute Männer in meinem Umfeld, das gibt mir Hoffnung“. Das trifft auch immer noch zu, ich kenne Männer und Jungs, die Prostitution und Pornos ablehnen, weil sie Frauen und Mädchen auf Augenhöhe begegnen und sich nicht an Entmenschlichung und Ausbeutung beteiligen wollen. Aber man muss sagen, es gibt viel zu wenige Männer, die zum Thema aktiv sind oder überhaupt unter ihren Freunden dazu den Mund aufmachen. Ich gehe auch nicht immer mit dem Thema hausieren, ich verlange keine „Reinheitsprüfung“ von Freunden und Bekannten. Mir ist klar, dass viele, gerade Pornokonsumenten - und ja, da sind auch nicht wenig Frauen dabei – nicht wirklich wissen, wie das, was sie sich angucken, produziert wurde. Ich glaube nicht, dass die meisten Männer und Jungs „böse“ sind und Gewalt fördern wollen, aber wie mit vielen Ungerechtigkeiten, gibt es viel Widerstand die belastende Wahrheit anzunehmen. Wobei ich mich auch dagegen wehre Puffgang oder Pornokonsum mit Essen oder Kleider kaufen gleichzusetzen – Sex ist kein Grundbedürfnis (man stirbt nicht ohne, ganz echt, ich verspreche es) und Masturbation geht auch mit Fantasie oder geschriebener Erotik, die niemanden ausbeutet.
Ich verurteile also nicht schwarz und weiß, aber es wäre gelogen zu sagen, dass es mich nie belastet, dass in meinem direkten Umfeld sehr viele Männer Hardcore-Pornos konsumieren und eine kleine aber signifikante Minderheit auch Prostitution benutzt. Ich glaube schon, dass es verhindert, dass wir uns wirklich gleichberechtigt begegnen, wenn so viele Männer extrem objektifizierte Bilder im Kopf haben und auch diese Idee von der „Nymphomanin“, die „Nutte“ wird, weil sie anders ist als andere Frauen. Ich möchte weder dass jemand so über mich denkt, noch dass eine Gruppe Frauen von „normalen“ Frauen wie mir abgespalten wird.

Wie wirkt sich dein Engagement auf dein persönliches Umfeld wie Freundeskreis oder Familie aus?
Meine Familie und Freunde sind zu meinem Glück fast alle schon lange politisch interessiert und teilweise auch aktiv. Das Thema Prostitution war für die meisten neu, aber insgesamt habe ich positive Erfahrungen damit gemacht es anzusprechen. Es gab natürlich auch unangenehme Gespräche oder solche wo ich gemerkt habe, dass das Thema nicht willkommen oder zu belastend ist – ich meine, dass ich das inzwischen besser einschätzen kann. Ich erwähne beiläufig, dass ich an dem Thema arbeite und gehe nur näher drauf ein, wenn Interesse gezeigt wird. Viele meiner Freunde sind natürlich selbst AbolitionistInnen und wir tauschen uns seit Jahren zu dem Thema aus – andere sind mit der Zeit UnterstützerInnen geworden und tragen die Diskussion selber in ihrem Umfeld weiter. Es dauert oft Monate oder Jahre bis es „Klick“ macht. Das nehme ich auch niemandem übel, denn es ist belastend anzunehmen, dass jeden Tag hunderttausende Frauen in Deutschland durch Freier, Zuhälter, Fremde und Polizei Übergriffe und Gewalt oder zumindest die Angst davor als Alltag erleben und das ganze von unserem Staat als „Wirtschaftszweig“ und von vielen in der Gesellschaft als „Sex“ und „Arbeit“ betitelt wird.

Was sagt die gegenwärtige Legitimation von Prostitution über unsere Gesellschaft in Deutschland aus?
Meiner Meinung nach kreiert Prostitution eine Klasse Frauen für die sämtliche Normen und Regeln, die wir uns für alle anderen in der Gesellschaft hart erkämpft haben oder gerade noch erkämpfen, einfach nicht gelten. Wir verstehen langsam, dass sexuelle Gewalt nicht immer bedeutet, dass eine Frau brutal aufs Bett geworfen oder mit einer Waffe bedroht wird. Gewaltvolle Zwänge sind vielfältiger und subtiler, aber deshalb nicht weniger stark oder traumatisierend. Bei Gewalt in Beziehungen sind wir uns langsam einig, dass es neben der physischen Gewalt auch die psychische gibt und die finanzielle, sowie eine Konditionierung in Kindheit oder Jugend, die Frauen glauben lässt, dass sie Gewalt verdient haben bzw. sie sie als solche gar nicht erkennen können. Aber bei der Prostitution erkennt Gesellschaft und Gesetz nur als „Zwang“ an, wem auch klar nachweisbar physische Gewalt angetan wurde, wer wirklich nicht entkommen konnte. Dabei ist so gut wie kein Opfer von Menschenhandel an eine Heizung angekettet.
Wer Opfer von Einschüchterung, Drohungen, Psychospielen, Loverboy-Methode oder Konditionierung durch alte Traumata wurde hat Schwierigkeiten Täter anzuzeigen und Recht zu erhalten – bzw. oft ist der Zuhälter ja einfach die Armut. Wer Wirtschaftsflüchtling ist oder Miete, Rechnungen und das Nötige zum Leben nicht zahlen konnte, hat Pech gehabt, wird vielleicht sogar noch als Schmarotzerin dargestellt. „Zu faul zum arbeiten“, heißt es immer noch gerne. Zu einer Frau, die vom Vermieter sexuell bedrängt wurde, weil sie die Miete nicht zahlen kann, sagen wir i.d.R. nicht mehr „selber schuld“ – zu Frauen, die für die Miete anschaffen gehen schon.
Wir nehmen auch keine Rücksicht auf Frauen die alkohol- oder drogenkrank sind. Auch sie sind „einvernehmliche Sexarbeiterinnen“. Obdachlosigkeit, prekärer Migrationsstatus, starke körperliche oder mentale Behinderungen… ich könnte die Liste jetzt noch fortsetzen… es gibt viele Formen von Zwang, die wir in vielen Kontexten anfangen zu verstehen, in der Prostitution aber nicht.
Und dann der Hohn, dass wir Feministinnen den „enthusiastic Consent“ (enthusiastisches sexuelles Einverständnis) fordern – also nicht nur die Gewaltfreiheit, sondern die lustvolle Sexualität der Frau. Wir wollen die „Orgasm gap“ (Orgasmus Lücke) schließen und machen uns über Männer lustig, die die Klitoris nicht finden können. Über Frauen in der Prostitution sagen wir aber gerne „ich habe auch nicht immer Lust auf die Arbeit“ und Freier müssen, anders als Partner oder Dates, auf überhaupt nichts mehr achten im Bezug auf Lust, Wohlbefinden, Vertrauen der Frau – solange sie zahlen und nicht aktiv beschimpfen oder handgriffig werden. Wir lästern über „Incels“ und raten ihnen an sich selbst zu arbeiten, anstatt Mädchen und Frauen fertig zu machen, die nicht mit ihnen schlafen wollen, denn es gibt kein Recht auf Sex! Aber dann feiern wir eine Industrie, bei der Männer glauben, sobald ein Schein die Hand gewechselt hat, steht ihnen Sex zu, genau dann, genau dort und genau so wie er will und wehe sie entscheidet sich um.
Ich könnte jetzt auch nochmal auf den krassen Rassismus in der Prostitution eingehen, aber es ist ja einiges schon erwähnt wurden. Also nur kurz: Wenn die (Bild-)Sprache der Prostitution so in einem Hollywood-Film oder einer Netflix-Serie gezeigt würde, gäbe es einen massiven globalen Shitstorm. Wird in Deutschland aber eine schwarze Frau in der Prostitution von ihrer Werbeagentur und von den Freiern mit dem „N-Wort“ bezeichnet, interessiert sich kaum einer dafür.
Die globale Bewegung, die einen vollständig legalen deregulierten Prostitutionsmarkt wünscht, benutzt den Begriff „Sexarbeit“ und behauptet man könne die Gewalt und Menschenverachtung in der Industrie ganz einfach durch Arbeitnehmerrechte beseitigen. Welche Arbeitnehmerrechte haben Frauen in der Prostitution? Dr. Rahel Gugel hat schon 2010 genau aufgezeigt, warum sämtliche vermeintliche „Arbeiterinnenrechte“ in der Prostitution nur auf Papier existieren: Wozu Lohn einklagen können, wenn eh alle Vorkasse machen? Wozu Arbeitsverträge eingehen können, wenn Bordell- und Escort-Agentur-BetreiberInnen keine Verantwortung übernehmen wollen und deshalb alle „freiberuflich“ tätig sind (was auch bedeutet, dass Gewerkschaften unmöglich sind, weshalb es nur ein paar undurchsichtige kleine Berufsverbände gibt)?
Ganz abgesehen von dem Hohn etwas als Arbeit zu bezeichnen, was schon inhärent sämtliche Arbeitnehmerschutzgesetze bricht, und zwar durch direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten ohne Schutzbarriere (Kondompflicht gibt es erst seit 2017, sie ist unüberprüfbar und die „Sexarbeit“-Fraktion war und ist strikt dagegen), der chronischen massiven sexuellen Belästigung, die die sog. „Anbahnung“ darstellt (wenn Freier Frauen nach sexuellen Handlungen fragen, die diese nicht wünschen; ihre Körper bewerten oder auch gleich mal die Echtheit der Brüste durch Grapschen überprüfen), der nicht-Existenz von Schichtlängen-Begrenzung, enorme Gefährdung schwangerer Frauen (in anderen Berufen dürfen sie sich nicht zu häufig bücken, aber Penetration durch 5-10 Männer am Tag ist in Ordnung) und und und…
Solange Prostitution gesellschaftlich und politisch legitimiert wird, herrscht eine Scheingleichberechtigung insbesondere der Geschlechter, aber auch im Bezug auf „Rasse“, Migration und ökonomische Klasse.

Gibt dir dein Engagement/Aktivismus etwas zurück?
Auf jeden Fall, sonst wäre ich nicht seit meinem 18. Lebensjahr dabei. Ich habe das große Privileg inzwischen so viele internationale Kontakte zu haben, dass ich, wenn ich viele Länder der Welt bereisen möchte (natürlich vor/nach der Pandemie), vor Ort Menschen kenne mit denen ich mich sofort austauschen, etwas zusammen unternehmen oder bei denen ich auch unterkommen kann. So ein Gefühl internationaler Schwesterlichkeit (und ein paar Brüder sind auch dabei) und Solidarität ist großartig. Auch wenn es in Deutschland so schleppend voran geht, habe ich immer Erfolge und unersetzbare Arbeit zu bewundern.
Es gibt natürlich das Risiko des sogenannten „Activist-Burn-out“, wo man sich für seine politischen Ziele überstrapaziert und selber krank macht. Aber da ich ja in die Fußstapfen vieler vorangegangener AktivistInnen trete, von denen viele da sind, um uns Jüngeren zu helfen, habe ich meist Rat zur Seite, wenn mir etwas Schwierigkeiten bereitet. Es gibt also Grenzen- und Generations-übergreifende Vernetzung und Freundschaften, die ich ohne die abolitionistische Bewegung wahrscheinlich nicht geschlossen hätte.
Ich habe im Zuge des Aktivismus auch viel gelernt über meine eigenen Fähigkeiten und ähnliches beobachte ich bei anderen: Wir bringen alle unterschiedliche Fähigkeiten mit uns, die notwendig sind um ans Ziel zu kommen. Erst durch Miteinbeziehen, Ermunterung und viel positives Feedback habe ich entdeckt, dass meine Stärken im Bereich Kommunikation liegen, dass ich gut und gerne Vorträge halte, Texte schreibe, Medienprojekte konzipiere und auch im Social Media Bereich – sei es mit den Unsichtbaren Männern auf Instagram oder als Elly Arrow auf Englisch bei Twitter – viele Menschen wachrüttle.
Andere Menschen sind toll im Bereich Organisation und können viele AktivistInnen gemeinsam aktivieren, andere sind Betroffene und/oder haben beruflich Berührungspunkte mit dem Thema Prostitution und haben unermessliches Wissen, das sie an das Licht der Öffentlichkeit bringen – wieder andere machen die konkrete Betreuung von Frauen in der Prostitution und solchen die aussteigen wollen. Wir brauchen alles davon und dafür auch eine vielfältige Gruppe Menschen, die in vielen Fällen diese Arbeit als transformativ für ihr eigenes Leben betrachtet und das definitiv auch im positiven Sinne.

Was wäre dein Wunsch/Aufruf für junge Menschen bezüglich. des Themas?
Ich könnte jetzt sagen, dass ich mir wünsche, dass alle dazu aufgeklärt werden, aber eigentlich wünsche ich mir, dass man nicht mehr aufklären muss, weil Prostitution so selten geworden ist und es so selbstverständlich ist, dass die Vermarktung von (Frauen-)körpern und Sexualität menschenverachtend ist. Es ist enorm schwierig adäquat aufzuklären ohne zu verstören, gerade für jüngere Altersgruppen. Ich wünsche mir für mich und für andere junge Menschen, dass wir nicht wiederholt in solche Abgründe gucken müssen, sondern in einer faireren Welt mit mehr Gleichberechtigung leben mit einem starken gesunden Verständnis von Konsens und Sexualität, wo Objektifizierung, Ausbeutung und Gewalt keinen Platz haben und wir uns mit anderen und auch schöneren Themen beschäftigen können.

Herzlichen Dank an Elly für diese reichhaltigen Antworten und für dein Engagement!

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Kristine Tauch
Mittelstraße 39
56348 Dahlheim Deutschland

Ich handle stellvertretend und im Auftrag für den gemeinnützigen Verein Youth Power e.V., der unsere Projektgelder verwaltet.
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2/11/22 - Der FILM TRAILER ist da!...

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