Wir sind alle gefordert!
Wir hatten für AUFBRUCH bisher einige riesige Hürden zu überwinden. Finanziell wie auch emotional, in Auseinandersetzung mit Stiftungen für Förderanträge und mit Menschen in unterschiedlichen Situationen. Nicht selten fühlten wir uns entmutigt davon, dass dieses Thema oft Widerstände statt Aufmerksamkeit hervorruft. Unser eigener Anspruch an das Projekt fordert uns zudem persönlich, hinter der Kamera hervorzutreten und unsere Haltung zu zeigen. Da ich bislang ein eher zurückhaltender, stiller und beobachtender Mensch war, hat mich das bei folgender Erfahrung einiges an Überwindung gekostet.
Im November letzten Jahres durfte ich gemeinsam mit Manuela Schon, einen Workshop zum Thema Prostitution und Aktivismus, bei der 7. Demokratiekonferenz in Wiesbaden, durchführen. Zu der Einladung kam es, weil Manuela Schon seit Jahren mit ihrem Aktivismus, in und über Wiesbaden hinaus, nachhaltige Veränderungen bewirkt. Ausserdem wurde unser gemeinsamer Film FASSADEN , welcher die Prostitution und den Aktivismus von Manuela in Wiesbaden thematisiert, zu einem großen Teil von Demokratie Leben! in Wiesbaden, den Gastgeber:Innen der Konferenz, gefördert. Die Intention unseres Workshops war, die Beteiligten zum Engagement zu ermutigen, über Hinschauen und kritisches Hinterfragen zu konstruktiven Aktionsformen zu finden. Dazu passt die Zielsetzung von Demokratie leben in Wiesbaden:
„Demokratie leben in Wiesbaden“ ist eine Strategie, die das zivilgesellschaftliche Engagement für Demokratie und gegen jede Form von gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit fördert. Gefördert werden Projekte in Wiesbaden, die sich für ein vielfältiges, respektvolles und diskriminierungsfreies Miteinander einsetzen.”
Wir durften uns über eine rege Beteiligung von etwa zwanzig Beteiligten, mit unterschiedlichen Hintergründen, wie z.B., Lehrer:innen, Schüler:innen und Sozialarbeiter:innen, freuen. Nach einer persönlichen Vorstellung von Manuela und mir, zeigten wir kurze Ausschnitte aus FASSADEN, sowie den Trailer für AUFBRUCH. Damit ging es in einen lebendigen Austausch unter allen Beteiligten über vertiefende Fragen: Wo liegen die individuellen Berührungspunkte mit Prostitution? Was ist an dahinter liegenden Problemen und Herausforderungen erkennbar und welche Möglichkeiten der Beeinflussung und Veränderung auf unterschiedlichen Ebenen werden gesehen?
Bei der Auswertung der Antworten wurde deutlich, wie tief durchdrungen unsere Gesellschaft von dem System Prostitution ist. So schrieb beispielsweise eine Teilnehmerin, dass sie schon Prostitutionsanfragen bei Ebay Kleinanzeigen erhalten hat. Berührt war ich besonders von der Fülle an analytischem und strukturellem Verständnis über die Ursachen und Auswirkungen von Prostitution, und begeistert von den vielfältigen Lösungsansätzen, die, in diesem doch recht kurzweiligen Zeitrahmen des Workshops, entstanden sind. Ähnlich positiv fiel auch das Feedback einer Teilnehmerin aus:
“Das Thema Prostitution als eines der krassen Auswirkungen des Patriarchats zu begreifen, beziehungsweise der patriarchalen Strukturen, die unsere Gesellschaft prägen, ist immer wieder wichtig und nicht aus dem Blick zu verlieren. Damit wird es auch zu “meinem” Thema und ist nicht irgendwo verortet.”
“Gut ist, diesem Thema Aufmerksamkeit zu schenken, ab von Scham, Voyeurismus oder Dauergrinsen, sondern feinfühlig, sachlich und doch weich.”
Noch wertvoller wurde die Konferenz für uns, als wir uns nach dem Workshop mit Beteiligten des damaligen Begleitausschuss von Demokratie Leben in Wiesbaden über den Verlauf unserer Bewerbung um die Förderung für FASSADEN bei Demokratie leben Wiesbaden austauschten. Damals gab es einige Nachfragen und Vorbehalte des Begleitausschusses zu dem Thema und unserer Intention. Auf diese Art von Hürde sind wir im Zuge der Akquise um Fördermittel von diversen, gesellschaftspolitisch orientierten Stiftungen bereits oft gestoßen. Woher rührt diese Verschlossenheit gegenüber einer kritische Auseinandersetzung mit dem Thema? Gabriele Reiter, Ansprechpartnerin für Demokratie leben in Wiesbaden, sagt dazu:
“Deutlich wurde mir, dass es schwierig wird, wenn es um, in diesem Fall patriarchale, Strukturen geht, und wir sozusagen ein Teil des Systems sind (Männer fühlen sich da sicher noch mal anders angesprochen). Denn dazu gehört Selbstreflektion und eine eigene Position zu Ausbeutung, sexualisierter Gewalt, zu Frauenhandel, zu Pornografie, zu Feminismus. Und es ist ein bisschen wie die Diskussion um Gewalt gegen Frauen – es ploppt immer einer/eine auf, die sagt: es gibt auch Gewalt gegen Männer – ja, stimmt … aber jetzt reden wir über Gewalt gegen Frauen. Die Diskussion im Begleitausschuss hat mir noch mal gezeigt, wie tief verankert die Strukturen sind und wie wenig es diese ermöglichen, Themen, die vor allem Frauen betreffen, als gesellschaftliche Gesamtaufgabe zu begreifen, wo wir alle gefordert sind, damit sich was ändert.”
Ich fühle mich durch diese Erfahrung bestärkt und bestätigt, dass sich Engagement für andere lohnt, egal wie groß die Widerstände oder Vorbehalte sein mögen. Sich zu überwinden, Haltung zu zeigen, Reaktionen hinzunehmen und unabhängig davon dran zu bleiben, kann zu der Erkenntnis führen: Aha! Einige Widerstände lösen sich nicht nur auf - es entsteht sogar Raum für neues Miteinander und für gemeinsames Engagement. Denn das braucht es und jede:r hat die Möglichkeit jederzeit etwas beizutragen.