Februar – über Bildung und Hoffnung
Der Februar sei Holger Kienle, Denis Bartelt, Anna Theil, Christof Struhk und ganz besonders Jan Fritsche gewidmet, weil sie ihn mir ermöglicht haben.
Es ist Dienstag, 24. Februar. Ich sitze in einer Bäckerei in Hamburg. In wenigen Minuten startet mein Kurs an der Hochschule, wo ich eine Gastprofessur inne habe. Ich hole wie jeden Montagmorgen hier in der Bäckerei zwei Croissants mit Sesam für das offene Frühstück und check noch schnell Emails auf meinem iPhone. Ich las eine Email von einer Frau namens Anja Gladkich. Wer war das denn nochmal? Achja, die Frau, die mich darum bat, bei einer Jugendweihe zu sprechen. Ich glaube, ich habe ihr zugesagt. Ich musste mich setzen und mir schossen Tränen in die Augen. Anja war bei der dclass Konferenz in Berlin. Doch eins nach dem anderen:
Im Februar standen alle Zeichen auf Bildung. Denn am 21. Februar habe ich mit ca 300 freiwilligen Menschen gemeinsam eine zweitägige Konferenz in Berlin umgesetzt: Die dclass - New Education for a New Economy. Es kamen mehrere Dutzend SprechnerInnen, die meisten aus dem Bildungsbereich. Die Höhepunkte des ersten Tages waren für mich persönlich die Beiträge von Hirnforscher Gerald Hüther, den ich beim Vision Summit im letzten Jahr kennengelernt habe. Meine 12 jährige Cousine Sidney, die ich dafür gewinnen konnte, auf der Bühne über ihr Hobby "Minecraft" zu sprechen. Sehr stolz war ich darauf, Maurice De Hond aus Amsterdam einladen zu können, der in Holland über 20 Steve JobsSchools Grundschulen gegründet hat. Maurice sieht in der Opensource Software die Lösung für viele Probleme. Der niederländische Medienstar zeigte mir auf dem iPad seiner 6-jährigen Tochter Daphne Comuerspiele, mit denen man Programmieren auf spielerische Art lernt. Meine Bedenken gegenüber dem vermeintlichen Suchtpotenzial ist durch seine kleine Einführung gesunken. Ben Paul, Deutschlands bekanntester Studienabbrecher stellte die Frage "Warum tust du das was du tust?" und die ehemalige Grundschullehrerin und Existenzgründerin Anna Kaiser und die junge Unternehmerin Milena Glimbovski waren für mich die Überraschungen des Tages. Kaiser überzeugte mit einer perfekt durchstrukturierten Rede über die Herausforderungen an die Arbeitswelt. Man hätte ihr Speakout auch "zur Lage der Nation" nennen können. Und Glimbovski, die Gründerin des "Original Unverpackt" Laden in Berlin gewann unsere Herzen mit ihrer offenen Art. Ein wenig schockte mich ihr Zugeständnis, dass sie vor Auftritten wie diesen Ritalin-Pillen schlucken muss, weil sie sonst ihre Gedanken nicht mehr fassen kann. Die Presse schenkte der dclass viel Aufmerksamkeit: RadioEins lud mic gleich zwei mal ins Studio nach Potsdam. Der Tagesspiegel machte gleich eine Videoreportage und die Berliner Zeitung brachte am darauffolgenden Montag eine halbseitige Berichterstattung. Damit haben die für mich wichtigsten Medienvertreter Berlins eine Vor- und Rückschau gegeben, die sehr wohlwollend war, vielleicht ein wenig zu wohlwollend. Am zweiten Tag wurde wenig kuratiert und nach dem Barcamp Prinzip konnte jeder eine Bühne bekommen, der wollte. Und da freute ich mich ganz besonders über Michael Bohmeyer, der die dclass auserkor, um ein weiteres Grundeinkommen zu verlosen. Die über 50 RednerInnen konnten in einem der sieben Räume in einem Kreuzberger Gewerbehof ihr zehnminütiges Statement beisteuern. Das war die Idee, keine Präsentationen, keine Powerpoint, keine Technik, keine (bzw. kaum) Fakten. Einfach nur Du und Deine Meinung. Ich nenne dieses Vortragsformat "Speakout". In dem Startnext Lab, welches der Abiturient Can Dermisli und ich betreute, durfte ich dem Speakout von dem gerade mal 12 jährigen Linus lauschen. Er kam mit seiner Mutter und wollte uns unbedingt mitteilen, warum er nicht mehr in die Schule geht und nun zu Hause Kuchen backen will. Bei solchen Äußerungen hätten sich bei mir vor noch einigen Jahren die Nackenhaare gesträubt. Doch heute verstehe ich, dass Schule in der westlichen Welt völlig überbewertet ist. Im Gegenteil, sie richtet meines Erachtens mehr Schaden an, als dass sie Vorteile bringt. Der Psychoanalytiker Arno Gruen geht in seinem Buch "Wider den Gehorsam", dass der blinde Gehorsam der Anfang ist vom Sterben der eigenen Persönlichkeit. Der Schweizer, der als Jude den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, geht mit allen Menschen, die Gehorsam einfordern (also Lehrern, Arbeitgebern und vor allem Eltern) hart ins Gericht. Der Gehorsam killt die Menschen. Von verändert sich gerade meine Meinung gegenüber dem deutschen Bildungssystem, welches weltweit einen guten Ruf genießt und in der Wirtschaft ja Platzhirsche wie Daimler oder BMW hervorgebracht hat. Aber ist das die Wirtschaft, die die Antworten geben kann für die Gesellschaft von heute und morgen? Ganz besonders gerührt hat mich ein Satz, der ganz zum Ende des ersten Tages auf der Bühne gefallen ist. Er kam von der wohl ältesten und lebendigsten Unternehmerin Deutschlands: Gertrud Rosemann (92 Jahre!). Sie sagte einen Satz, den ich nicht vergessen werde: "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.".
Die dclass war für mich eine sehr wertvolle Erfahrung und vermutlich hätte ich diese Konferenz nicht machen können ohne das dScholarship. Es war nicht so, dass ich sehr viel Zeit in die Umsetzung reinstecken musste. Das war ja auch Teil des Konzeptes, mich als Initiator möglichst überflüssig zu machen. Es dauerte einige Wochen, doch dann geschah es. Es formierte sich ein Kernteam bestehend aus ca. sieben Menschen, die das Ruder übernahmen und ganz eigenständig mit einer eigenen Agenda die Führung übernahmen. Treibende Kräfte waren die Künstlerin Stephanie Bothor, der Crowdmanager Shai Hoffmann, der technische Leiter Moritz Jüdes, unsere Orgameisterin Amira Jehia und der Kommunikationschef Oli Pritzkow. Ich kam zur dclass wie ein Besucher. Dennoch hätte die dclass ohne das dScholarship nicht stattfinden können, denn die Planung erforderte sehr viel Aufmerksamkeit meinerseits. Wir haben bei der gesamten Konferenz das Gute Karma Prinzip gelebt, welches drei Regeln hatte:
1. Jeder darf machen, worauf er Lust hat und muss niemanden um Erlaubnis bitten.
2. Wenn jemand Fehler macht, muss er dafür gerade stehen, die anderen helfen ihm aber dabei.
3. Jeder soll das bekommen, was er will – sei es Aufmerksamkeit, Ego, Herausforderung oder im Gegenteil Ruhe, Abgeschiedenheit und Verständnis.
Das sorgte für erstaunlich wenig Reibereien in einem Team, welches bis auf einige wenige ehrenamtlich arbeitete. Die Machtmenschen haben sich von allein aussortiert.
Was sind die Früchte der dclass?
Eine Schule in Berlin testet nun demnächst die iPad-Methode von Maurice De Hond.
Das Folgeprojekt der dclass ist keine zweite dclass. Sondern heißt TEDx Neukoelln und wird veranstaltet von einem Abiturienten.
Amira Jehia hat durch die dclass neue Jobperspektiven gewonnen und fühlt sich seit langem wieder erfüllt durch ihre neue Arbeit. Jehia ist nun in einem Verein untergekommen, der das Grundeinkommen voranbringt.
Moritz Jüdes hat durch die dclass ein festes Team gewonnen, welches mit ihm das Startup "Socialee" gegründet hat. Ich habe durch die dclass den Berliner Ausnahmekünstler Willy Kramer kennengelernt, mit dem ich Musik mache. Und ich freu mich darüber, dass einer der dScholarship Stifter namens Jan Fritsche so aktiv dabei war (mit einem Speakout). Den Rhythmus der wöchentlichen dclass Treffen hat sich beibehalten. Und es kamen noch weitere wöchentlichen Jourfixe dazu. Sie sind für mich wie die Stammkneipe des guten Karmas. Wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, einfach mal reinschnuppern magst, dann schau doch mal hier in die aktuellen Termine: www.facebook.com/karmahafen. Natürlich gab es auch einige Dinge, die liefen nicht rund. Mich plagt ein schlechtes Gewissen: Ich habe mich finanziell ein wenig verrechnet und zu viel Geld verschenkt. Eine Rechnung von einem Filmemacher, der uns sehr geholfen hat, steht noch offen. Das muss ich nun ratenmäßig abstottern. Eine Bloggerin beschwerte sich darüber, dass wir zu sehr in einer Blase sind. Ein Teammitglied kam mit unseren offenen chaotischen Teamstruktur überhaupt nicht zurecht und fühlte sich nicht genug wertgeschätzt. Wir haben geflucht und geschimpft über den Filmverleih von "Alphabet" (Erwin Wagenhöfer), die sich geweigert haben, uns zu unterstützen. Doch im Großen und Ganzen kann ich die Ben Paul Frage ganz klar beantworten. Warum ich das tue, was ich tue? Diese Frage beantwortet die Mail von Anja Gladkich. Die Frau, die mich zum Weinen brachte. Sie schrieb:
"Am 23.02.15 um 00:03 schrieb Anja Gladkich
> Lieber Van Bo,
>
> ich bin unheimlich bewegt von meinen Erlebnissen der letztenbeiden Tage (...)
Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen, sie werden denGefühlen nicht gerecht, es klingt so furchtbar kitschig. (...) Jedoch ist mir vorhin, als ich nach dem Abschluss aus demStartnext-Lab herauskam etwas für mich so fundamentales widerfahren – ich kannnicht aufhören zu weinen (positiv!), das ich einfach nicht umhin kann, dies mitDir zu teilen, denn, so wie ich es sehe, verdanke ich es Dir.
> Ich muss ein bisschen ausholen. Ichhatte immer einen starken Gerechtigkeitssinn und ein großes Unverständnis fürdie schlechten Dinge in dieser Welt. Ich verstehe nicht, warum wir nicht alleeinfach nur anständig und umsichtig miteinander sein können. Damit einher geht fürmich ein großes Ohnmachtsgefühl. Wer bin ich denn die Welt zu verändern? Wosoll ich denn anfangen? Und überhaupt, für sowas bin ich gar nicht gut genug! MeineAntwort bestand für mich darin, zu versuchen, einfach in meinem direkten Umfeld(Familie, Nachbarn, Freunde…) zu versuchen, diesen Anstand und diese Umsichtumzusetzen, die ich mir für die Welt wünsche. Dort, wo mir etwas auffällt undeinfällt, einen kleinen Beitrag zu leisten (Spenden für die Zivilgesellschaftin Syrien) und alles andere, die großen unlösbaren Probleme, auszublenden. Ichschaue keine Nachrichten. Ich ertrage das nicht.
>
>
> Ich bin schon länger fassungslos undwütend über den Nahostkonflikt. Darüber, dass man dort eine Mauer baut undMenschen jede Lebensperspektive nimmt. Als aber die Spannungen nach derErmordung der jungen Israelis eskalierten, saß ich weinend vor den Bildern derbombardierten palästinensischen Zivilbevölkerung. Ich konnte mich nichtlosreißen von den Kindern. In jedem von ihnen – ob sie an der Hand Ihrer Elternflüchteten, angstvoll schauen oder verletzt ins Krankenhaus gebracht wurden –in jedem von ihnen sah ich meins und mir brach das Herz. Ein Bild hat sichbesonders eingebrannt, das allerschlimmste. Eine Mutter hält in sprach- undtränenloser Trauer ihr in ein weißes Tuch gehülltes Kind im Arm. Kein dunklesHaar, keine braunen Augen, nur ein Bündel in der Größe meiner Tochter. Ich kannihren Schmerz nicht erfassen, nur die Ahnung davon macht mich fertig, und ichkann nichts tun für sie, für keinen von ihnen. Ich saß nur weinend vor demBild, konnte nicht arbeiten, nicht schlafen. (...) Ich kam zum Limit meiner Schmerzgrenze, meinerWut. An einem absoluten Tiefpunkt.
>
>
> Während dieser Zeit schrieb ich Dir. Anders als vieleandere, denen ich mit meinem Anliegen (der Jugendweiherede) schreibe, hast Dugeantwortet. Und nicht nur das, sondern sogar zugesagt. Gleich darauf kam dieMail, wo Du mir von der #DCLASS schriebst und mich batest, Dir Feedback dazu zugeben. Das habe ich versucht, auch wenn ich nicht ganz durchgesehen habe, undhabe seitdem interessiert verfolgt, wie das weiterwächst, und was ich dazubeitragen kann. (...) Auf dieKonferenz habe ich mich seitdem, seit Du/Ihr mir im Dezember das Ticket gemailthabt, gefreut.
>
> Ich war nicht gefasst darauf, wie sehr Ihr mich bewegenwürdet. Ich war vor allem nicht gefasst auf die Heilung, die einsetzte. Esklingt so bescheuert, Van Bo, es tut mir leid, dass ich das nicht andersausdrücken kann. Seitdem ich das erste Mal von Dir zurück hörte, fing meinGlaube in diese Welt wieder zu wachsen an. Dass vielleicht doch nicht allesverloren ist, dass auch das Gute noch zu finden ist. Die Konferenz war eineFortsetzung davon und eine Erweiterung. Denn ich habe für mich verstanden,hoffentlich nachhaltig, dass ich aufhören muss, mir die Frage zu stellen, wases wohl bringen soll, was ich wohl leisten kann. Ich muss einfach tun und fürmich wissen, dass das genug ist und richtig: tun, was ich tun kann. Ich dankeEuch allen, allen Beteiligten für dieses Geschenk.
>
> Du fragst Dich, ist das nun endlich der Punkt? Damit habenwir doch angefangen? Pass auf, jetzt kommt’s. Ich gehe also raus, aus demStartnext-Lab, mit diesen Gefühlen im Bauch. Durch meinen Kopf hallt DeinWunsch, Deine Spannung wieder, dass doch etwas entstehen möge, aus diesen Tagenund ich trage den Entschluss in mir, auch dazu beizutragen. Ich krame geradenach meinem Autoschlüssel, da fragt mich eine höfliche Stimme: „Excuse me, whatis going on in here?“ Es sind zwei Frauen, eine weißhaarige, neugierige Ladyund eine junge, zurückhaltende Schönheit. Ich erzähle ihnen von der Konferenz,den Themen, von Dir, was Du hier geschaffen hast und von dieser ungeheurenInspiration, die heute viele Leute hier erfasst hat. Ich gebe ihnen einen derZettel mit, der da noch mit Masking Tape am Schaufenster klebt, damit sie dieWebseite – und bald vielleicht auch die Speakouts – finden und daran teilhabenkönnen. Sie sind unheimlich angetan und bedanken sich auf das herzlichste. Siewollen sich das auf alle Fälle näher ansehen. Die Lady steckt den Zettel einund wir umarmen uns. Es ist uns einfach danach. Ich frage „But what do YOU do here? What madeyou come to this place, at this time?“ “Oh, we’re on a one week visit in Berlinand we stay here”, sagt sie, “I come from Isreal, I’m a teacher. This” – und siedeutet auf die Schönheit “is my student. She is Palestinian.”
>
> DANKE!
>
> Anja"
Wie sagte Gertrud Rosemann so schön: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.
Der Dank gilt allen Unterstützern und Karma Helfern der dclass Konferenz. Und auch den dScholarship Stiftern, die meinen Sohn mit Windeln versorgt haben und insbesondere der Person, die mir die Mobilität im Februar ermöglicht hat: Annette Scharlach.
Weitere Links:
www.dclass.de
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/erste-d-class-konferenz--im-heimathafen-neukoelln-auf-der-suche-nach-sinn-und-nachhaltigkeit,10809148,29927386.html