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Eine Novelle, die die Blindheit der Sehenden beklagt und sich für ein Miteinander auf Augenhöhe stark macht.

Hanover's Blind ist eine Novelle, die Hannover detailgetreu aus der Sicht eines Sehbehinderten zeigt, die Blindheit der Sehenden beklagt und sich für ein Miteinander auf Augenhöhe stark macht. Die geplante Veröffentlichung von Hanover's Blind soll im September 2018 stattfinden.
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Funding period
5/31/18 - 7/10/18
Realisation
September 2018
Website & Social Media
Minimum amount (Start level): 2,080 €

Dieser Betrag reicht, um Hanover's Blind mitsamt Lektorat und Coverdesign umzusetzen.

City
Hannover
Category
Literature
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09.06.2018

Leseprobe zu Hanover's Blind

Kia Kahawa
Kia Kahawa6 min Lesezeit

Hauptbahnhof

Nein. Das war das erste Wort, das ich von mir gegeben habe. Zehn Monate, nachdem ich das Licht der Welt erblickt hatte. Natürlich erinnere ich mich nicht daran. Das Thema Licht ist für mich ohnehin etwas kompliziert, aber ich greife vor.
Meine Eltern haben mich immer gut behütet. In der Schule glänzte ich mit meinen Leistungen in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Naturwissenschaften waren nicht meins, bis auf Mathe. Mathematik ist in allen Sprachen gleich, und das gefällt mir daran. Ich mag Dinge, die genormt sind. Verlässlichkeit ist mir sehr wichtig, und Zahlen und Gleichungen sind definitiv verlässlich. Doch wie in der Mathematik gibt es auch im richtigen Leben Variablen. Mein Leben ist eine davon, aber ich kann sie nicht berechnen. Wie ich auch die Formel umstelle, die Gleichung meines Lebens hat keine eindeutige Lösung für mich.
Deswegen mag ich Musik. Eigentlich würde ich gerne tanzen. Es nimmt mich immer mit, wenn ich meine Lieblingsmusik höre. Sie schwingt in mir, bringt etwas in Bewegung, was sonst im alltäglichen Leben ruht. Aber ich tanze nie. Da ist wieder diese Sache. Licht.
Also habe ich unter Betteln und Flehen durchgesetzt, Klavierunterricht zu bekommen. Als Teenager wünschte ich mir, Kontrabass zu spielen. Aber das Instrument sei anstrengender zu lernen und der Koffer des Instruments zu groß für jemanden wie mich. »Jemand wie ich«, das ist eine der Normen, die mir zwar begreiflich sind, aber tief in mir auf Ablehnung stoßen. Vielleicht liegt das daran, dass ich niemanden kenne, der wie ich ist. Alle Menschen haben ihre Besonderheiten, die sie einzigartig machen. Aber zurück zum Klavier. Mein Klavierlehrer war zufällig ein Angestellter meines Vaters. Ich nahm also Privatunterricht bei ihm zu Hause und lernte das Instrument und die Musik lieben. Nach den ersten Sonaten war meine Technik in Ordnung und ich hätte etwas aus meinem Talent machen können. Aber ich wollte lieber improvisieren. Jazz-Klavier hat erstaunlich wenig mit klassischen Sonaten zu tun.
Für mich haben Mathematik und Musik viel gemeinsam. Beim Improvisieren setzen sich die gelernten Harmoniemuster in meinem Kopf zusammen wie die Grundkompetenzen der Mathematik, die ich in den vergangenen Jahren gelernt habe. Dann kam das Abitur. Während der Klausuren war alles still. Nur das Knacken von Schokolade, kurze Hustenanfälle und das Stöhnen meiner Mitschüler füllte den Raum. Ach, und mein ekstatisches Tippen. Man könnte meinen, ich hätte die Tastatur verprügelt, so energisch hämmerte ich auf die blöden Tasten ein. Muss ich die anderen genervt haben!
Und nun, was soll ich sagen. Jetzt habe ich Abitur, gerade mein Studium kurz nach Beginn des vierten Semesters geschmissen und stehe an irgendeinem Gleis in Hannover. Vielleicht Gleis 8, aber ich meine, mich erinnern zu können, dass es eine Fahrplanänderung gab. Richtig zugehört habe ich nicht, weil ich gerade Sigur Rós auf den Ohren hatte. Fantastische Musik für einen Neuanfang! Meine Eltern haben mir immer verboten, in Bussen und Bahnen Kopfhörer zu tragen. Ich bräuchte mein Gehör für den Notfall.
Ein paar Minuten vergingen. Vielleicht auch nur langgezogene Sekunden. Ich hatte keine Lust, meine Uhr aufzumachen und nachzufühlen. Lieber genoss ich, wie sich die Menschentraube, die sich vor der Tür des ICE gebildet hatte, Stück für Stück auflöste. Die Gesprächsfetzen sollte man mal aufzeichnen!
Hinter mir beschwerte sich eine Frau mittleren Alters, dass sie keine Lust hätte, die gesamte Zugfahrt zu stehen. Bis Berlin seien es gute drei Stunden. Der Zug sei überfüllt. Eine junge Osteuropäerin motzte lautstark über ihren Freund. Oder Exfreund. So, wie die blökte, war sie am Telefonieren. Nicht weit von ihr gab ein Mann seinen Koffer an jemanden ab und machte einen Vorschlag. Seine Begleitung sollte das Gepäck beider Personen nehmen und er zwänge sich durch die Menschenansammlung, um einen Sitzplatz zu ergattern. Cleveres Vordrängeln nenne ich das. Manchmal genoss ich das Leid der anderen. Aber auch nur, weil ich noch nie im Zug stehen musste.
Ein stämmiger Mann, locker anderthalb Köpfe größer als ich, rempelte mich an.
»Kannst du nicht aufpassen?«, raunte er und beschleunigte seine Schritte.
Mir war nicht nach Konversation. Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Seinem entnervten Raunen nach zu urteilen rollte er mit den Augen und verschwand. Oder war schon längst verschwunden. Ja, ich glaube, er war bereits weg. Er hatte es schließlich eilig.
Für einen Tag im Spätfrühling war es ziemlich kühl. Der Wind fegte über das Gleis. Der ICE, der mich in meine neue Heimat entlassen hatte, fuhr ab. Ich stand noch immer gedankenverloren am Gleis. War der einzige Mensch an diesem Ort.
Mein Handy vibrierte kurz. Ich zückte das iPhone, freute mich, dass ich keine neidischen Blicke erntete. Eigentlich konnte ich Apple nicht leiden. Was für eine Prestige-Marke! Die Blicke der Neider entgingen mir nicht immer, oder vielleicht bildete ich sie mir ein. So ein teures Gerät sollte man sich nicht leisten können, wenn man mit dem letzten Ersparten seines Ausbildungsgeldes in einen Flieger stieg und in einer fremden Stadt Fuß fassen wollte.
»Wo bist du Fragezeichen vor Angst schreiendes Gesicht.«
»Wenn ich das wüsste«, sandte ich als Sprachnachricht.
Meine Tante antwortete sofort. »Ich kann keine Sprachnachrichten hören. Gesicht mit rollenden Augen.«
»Idiot.« Ich stöhnte unmerklich. Dann diktierte ich, was ich per Copy & Paste an meine Tante weiterleitete.
»Wir treffen uns unterm Schwanz.«
Behinderte sind nicht dumm, im Gegenteil. Ich glaube, wenn man nur vier von fünf Sinnen zur Verfügung hat, wird man ziemlich geschickt im Umgang mit dem Leben. Zumindest dann, wenn einem keiner diktiert, wie man zu leben hat.
Ich hatte meine Recherchen über Hannover gemacht. Unterm Schwanz nannte man den beliebtesten Treffpunkt direkt vorm Hauptbahnhof. Da steht eine große Statue, die irgendeinen Typen auf einem Pferd darstellt. Unter dem Schweif des Pferdes treffen sich die Hannoveraner mit Externen. Leute, die in der Stadt wohnen, wählen dafür die Kröpcke-Uhr. Ich konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.
»Du kannst ja doch schreiben Punkt«, sagte mir das Prestige-Telefon. »Sicher Komma dass du den Weg findest Fragezeichen«
Ich hielt meinen Daumen kurz auf die untere rechten Bildschirmkante und ließ sie wieder los. WhatsApp bestätigte mir, dass die Sprachnachricht gesendet wurde. Sollte meine Tante doch denken, ich hätte etwas zu ihrer Aussage zu sagen! Das Gesicht, das sie machte, wenn sie dreizehn Sekunden Umgebungsgeräusche und Bahnansagen hörte, hätte ich zu gerne gesehen. War aber nicht möglich. Also zog ich den nervigen Stock aus der Jackentasche, seine Faltmechanik verlängerte ihn und mein Rolli teilte mir sofort mit, dass ich an einem Aufmerksamkeitsfeld stand. Hier ging es also lang. Klasse.
Rolli ist der weiße Ball am Ende des Blindenstocks. Ich konnte ihn noch nie leiden, weder Stock noch Ball. Das ist wie bei diesen kannibalischen Spinnen, die ihre Eltern nach der Geburt auffressen. Eine Hand, die einen füttert, sollte man nicht beißen, aber ich tat es. Schon in der Grundschule hatte ich »nein« zum Stock gesagt. Wahrscheinlich, weil ich nicht herausstechen wollte. Als Grundschüler, der weder ein gewöhnliches Schulbuch lesen noch einen Aufsatz über seinen schönsten Tag in den Ferien schreiben konnte, fiel man allerdings zwangsläufig auf. Whatever. Jedenfalls hatte meine Mutter mir vorgeschlagen, dem Ball einen Namen zu geben. Ich nannte ihn Rolli, und seitdem war der Stock für mich kein entblößendes Instrument mehr, sondern ein nerviges Hilfsmittel mit einem Namen.

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