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Mord im Zweiten ist ein interaktiver Wien-Krimi von Lukas Pellmann und seinen Leserinnen und Lesern, der nun als gedruckte Ausgabe erscheinen soll.

Der Wiener Theaterintendant Valentin Karl wird am Morgen des 27. Oktober 2015 ermordet, an einem Waggon des Riesenrades hängend, aufgefunden. Chefinspektorin Vera Rosen und der ihr aus München dienstzugeteilte Kollege Moritz Ritter nehmen die Ermittlungen auf.
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Funding period
9/1/16 - 10/1/16
Realisation
November 2016
Minimum amount (Start level): €
7,760 €
City
Wien
Category
Literature
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01.09.2016

Leseprobe aus "Mord im Zweiten"

Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri17 min Lesezeit

Dienstag, 27. Oktober 2015 (1. Tag)

Wenn du in Wien bist, musst du unbedingt mit dem Riesenrad fahren.
Ein Satz, den Moritz Ritter in seinem Leben wohl nicht mehr so schnell vergessen sollte. Das war der erste Satz, den seine Mutter am Telefon sagte, als er ihr von seinem Aufenthalt in Wien erzählt hatte. Die Idee zu diesem Wien-Aufenthalt war von Peter Saarländer, seinem Chef bei der Münchner Polizei, gekommen. Dieser hatte selbst keine Lust auf den einmonatigen Austauschaufenthalt bei den Kollegen der Wiener Polizei gehabt. Also hatte er Moritz vorgeschickt. Passend dazu sendete Moritz’ Mutter ihm einen Wien-Reiseführer, der schon seinen Eltern auf ihrer Reise gute Dienste geleistet hatte. Damals, der Reiseführer trug das stolze Produktionsdatum 1980, inklusive dem Zusatz völlig überarbeitete Auflage, war Moritz gerade mal ein Jahr alt. Wien lag zu dieser Zeit am Rande der freien Welt an der Grenze zum Ostblock. Eine graue Stadt, in der internationale Filmproduktionen ihr Quartier aufschlugen, wenn sie eine möglichst originalgetreue, mit anderen Worten, heruntergekommene, Ostblockkulisse benötigten. Und genau dieses Flair verströmte auch der Reiseführer, den Moritz während seiner ersten Tage in Wien ausgiebig studiert hatte. Nun, drei Wochen später, kam er zu dem Schluss, dass das beschriebene Wien der 1980er nicht mehr viel mit dem Wien der Gegenwart gemeinsam hatte.
Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, um das moderne Wien, die Stadt der Ampelpärchen und des Eurovision Songcontest, zu bestaunen. Denn in fünf Tagen sollte Moritz’ Wien-Stippvisite bereits wieder vorbei sein.
»Der Reiseführer leistet dir sicher wertvolle Dienste«, hatte Mutter Ritter nochmal am Telefon gesagt, als Moritz vor wenigen Tagen mit ihr telefoniert hatte. »Achte vor allem auf die Stellen, die wir damals mit Bleistift unterstrichen haben«, hatte sie noch hinterhergeschickt.

Auch Leopold Gruber, ein gegenüber Deutschen nicht sehr freundlich eingestellter Kollege im Bezirkspolizeikommissariat in der Wiener Leopoldsgasse, hatte, noch bevor er ihm seinen Namen verraten hatte, gesagt: »Du, als Bundespiefke, musst unbedingt eine Runde mit dem Riesenrad fahren.« Natürlich hatte Gruber diese Empfehlung nicht in schönem Hochdeutsch von sich gegeben, sondern in dem ihm eigenen dreckigen Wiener Dialekt. Doch Moritz, der Bundespiefke, hatte sich die genaue Wortwahl nicht merken können.
»Unbedingt mit dem Riesenrad fahren.« Auch an der Rezeption des Hotels, in dem er während seines auf insgesamt vier Wochen ausgelegten Aufenthalts in der österreichischen Hauptstadt wohnte, wurde ihm das ans Herz gelegt. »Wenn Sie schon mal in Wien sind, müssen Sie das mal machen.« Schließlich sei das Riesenrad doch eine Institution. Neben Stephansdom, Schönbrunn und Sachertorte das Wiener Highlight schlechthin! Moritz verschwieg an dieser Stelle gerne, dass er es bis dato auch nicht in den Stephansdom und nicht nach Schönbrunn geschafft, geschweige denn eine Sachertorte verspeist hatte. Dafür bekam er jeden Sonntag von seiner Chefin Vera Rosen einen Kaiserschmarrn zum Frühstück serviert. Aber das interessierte weder die Rezeptionistin im Hotel noch Peter Saarländer in München. Nur seine Mutter im heimischen Paderborn, die wusste ihren Sohn bei Chefinspektorin Vera Rosen in guten Händen.

Das Riesenrad sollte um zehn Uhr seine Pforten öffnen. Am Abend zuvor war er mit zwei Kollegen im Leopoldistüberl hängengeblieben. Auch so eine Institution, die man unbedingt gesehen haben muss. Vor allem für eingefleischte Fans von Wanda, einer Band, die seit gut einem Jahr in Österreich und Deutschland für Furore sorgte. Franz Purck, einer von Moritz‘ Kollegen, war ein großer Verehrer der Band. Seit er spitzbekommen hatte, dass Wanda gerne mal im Leopoldistüberl zu Gast ist, nutzte er jede Gelegenheit, um ebenfalls dort rumzuhängen. Stets in der Hoffnung, zumindest eines der Bandmitglieder dort anzutreffen. Und stets wurde diese Hoffnung enttäuscht.
Also zum Riesenrad. Eine Runde mit diesem großen runden Ding am Beginn des Praters, das musste ja einfach sein. Moritz ließ den Wilhelmshof, sein Hotel lag in der Kleinen Stadtgutgasse, hinter sich und bog rechts in die Heinestraße ein. Der Lärm vom vierspurigen Kreisverkehr, der an diesem Vormittag im Schneckentempo rund um den Praterstern kroch, machte sich bereits hier bemerkbar. Über eine Ampel gelangte er in das Innere des Kreisverkehrs, wo sich auch die S- und U-Bahnstation befand. Auf der anderen Seite galt es nochmal die Fahrbahnen zu kreuzen und schon war er nur noch hundert Meter vom Riesenrad entfernt. Auf einem Ständer erinnerte ein zerfetztes Plakat an die Wahlen, die im Oktober in Wien stattgefunden hatten. Stoppt die Islamisierung, war darauf zu lesen, darunter das Logo der FBW. Die Partei, deren Abkürzung für Freie Bürger Wiens stand, kam der seit Jahrzehnten regierenden Bürgermeisterpartei bei den Wahlen bereits ziemlich nahe.
Moritz stellte sich an den Rand der Kaiserwiese, von der nach dem dort abgehaltenen Oktoberfest nur noch wenig übrig war. Von dort hatte man einen ausgezeichneten Blick auf das Riesenrad in all seiner runden Pracht. Von hier wollte er noch schnell ein Bild machen, damit er Peter Saarländer und seiner Mutter einen Fotobeweis schicken konnte. Moritz hielt sein Handy hoch und fokussierte mit dem Sensor die roten Waggons.
Jede dieser Kabinen trug eine Nummer mit einer geraden Zahl. Mit zwei beginnend waren alle fünfzehn Gondeln bis zur Nummer dreißig durchnummeriert. Seltsamerweise schien an jenem Waggon, der die Ziffer zwei trug und gerade ganz oben in der Luft stand, etwas befestigt zu sein. Wahrscheinlich eine Werbe-Aktion, dachte sich Moritz. Vor einigen Monaten hatte ein Safthersteller eines seiner Fläschchen in überdimensionaler Größe zwischen zwei der Waggons gehängt. Fotos davon gingen um die Welt, auch Moritz hatte sie in München in seinem Instagram-Feed gesehen.
Jene Waggons, die eine ungerade Ziffer getragen hatten, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg abmontiert. Man hatte um die Standfestigkeit der Konstruktion gefürchtet. Besser war das, dachte sich Moritz, denn wäre das Riesenrad in der Nachkriegszeit in sich zusammengestürzt, hätte er sich diese Sehenswürdigkeit nicht mehr ansehen können. Und was hätte man ihm dann zwecks Freizeitbeschäftigung in der österreichischen Hauptstadt empfehlen sollen?
Seine Gedanken über alternative Sehenswürdigkeiten wurden von einem Schrei unterbrochen. Als Moritz auf dem Platz vor dem Riesenrad ankam, sah er eine völlig aufgelöste Frau, die mit ihrem ausgestreckten Arm in die Luft zeigte und immer wieder »A Leich’, dort oben hängt a Leich’« schrie.
Moritz sah nach oben. Die Frau musste wohl jenen Waggon mit der Werbeaktion entdeckt haben. Der Kommissar wollte die Dame gerade beruhigen, doch als er sich das seltsame Objekt, das unter Waggon Nummer zwei in der Luft baumelte, nochmal genauer ansah, war er sich auch nicht mehr so sicher, ob es sich dabei tatsächlich um eine Werbeaktion handelte. Das Ding sah weder aus wie eine Saftflasche, noch war irgendeine Art Logo daran zu entdecken.
Das Riesenrad stand nun still, die einzelnen Waggons hingen leblos in der Luft. Genauso wie ein menschlicher Körper, der von der Unterseite, der am höchsten stehenden Kabine herab baumelte.

Es dauerte keine zwei Minuten, dann kamen zwei hektisch blinkende Polizeiautos um die Ecke geschossen. Aus beiden Streifenwagen sprangen jeweils zwei Polizisten und liefen ins Innere des Gebäudes, über dem sich das berühmte Wiener Wahrzeichen in die Luft erhob.
Gerade als Moritz den Kollegen folgen wollte, läutete sein Telefon. Auf dem Display erschienen das Bild und der Name seiner Wiener Chefin Vera Rosen. Moritz ahnte bereits, worum es bei dem Anruf gehen würde.
»Du wolltest doch die ganze Zeit mal zum Riesenrad. Jetzt hast eine gute Möglichkeit dafür«, sagte Vera. »Das ist gleich bei dir um die Ecke vom Hotel. Du gehst die Heinestraße entlang, überquerst den Praterstern und dann hinter der Kaiserwiese siehst du eh schon gleich das Riesenrad.«
Vera Rosen kümmerte sich wie eine Ersatzmutter um Moritz. Sie nahm sich seiner vermeintlich hilflosen Person während seines Wien-Aufenthalts vorzüglich an, lud ihn jeden Sonntag zum Frühstück ein und bestand sogar darauf, dass er bei ihr seine Wäsche wusch. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie ihm zu Beginn seiner Zeit in Wien, wenn es darum ging, dass Moritz von Punkt A zu Punkt B kommen sollte. Bis aufs kleinste Detail schilderte sie ihm, wo er auf welche Weise hinkommen würde. Offensichtlich machte sie sich ernstlich Sorgen, dass Moritz unterwegs in der Wiener Kanalisation oder einem Kaffeehaus verschwinden und nie wieder auftauchen könnte.
»Ich weiß, wo das Riesenrad steht. Das ist ja nicht zu verfehlen. Und außerdem bin ich bereits am Ort des Geschehens.«
»Ah, sehr gut. Warte auf mich und rühr dich nicht vom Fleck, ich bin in fünf Minuten da. Hörst du?«
Warum sich Moritz nicht haargenau an die Anweisung seiner Lebensabschnitts-Chefin hielt, hatte mit den bisherigen dreieinhalb Wochen zu tun, die er in Wien verbracht hatte. Denn in dieser Zeit schienen alle Verbrecher im zweiten Bezirk auf Urlaub gewesen zu sein. Und so hatte Moritz die meiste Zeit seines Wien-Aufenthalts in jenen spärlich eingerichteten Räumlichkeiten verbracht, die der Mordkommission über dem Wachzimmer in der Leopoldsgasse zugedacht worden waren. An sich befand sich die für den Bezirk zuständige Mordkommission im Nachbarbezirk. Doch da die Leopoldstadt in den vergangenen Jahren stark gewachsen war und sich somit auch die Verbrechen gehäuft hatten, entschied man sich dazu, eine provisorische Außenstelle im zweiten Bezirk, der Leopoldstadt, einzurichten. Eine Fehlinvestition, wie der Kommissar aus Deutschland nach den bislang ruhigen Wochen im Oktober des Jahres 2015 überzeugt war.

Moritz betrat das Gebäude und ging, vorbei an alten Bildern aus der Vergangenheit des Riesenrades, zu zwei Polizisten, die den Zutrittsbereich absperrten. Einen der beiden kannte Moritz von der Arbeit im Kommissariat.
»Kollege, was ist denn hier passiert?«, fragte er den Uniformierten, der gerade das Riesenrad durch eine Dachluke von unten betrachtete.
»Treten Sie bitte zurück, Sie behindern einen Polizeieinsatz«, antwortete der Polizist, der Moritz offenbar nicht als Mitarbeiter des Kommissariats identifizieren konnte.
»Erkennst du mich nicht? Ich bin der Moritz Ritter, dienstzugeteilter Kommissar aus München. Wir sind doch schon im Leopoldistüberl bei einem Bier zusammengesessen. Also, du hattest ein Bier. Ich habe ein Glas Apfelsaft getrunken.«
Der Streifenbeamte musterte Moritz ein bisschen genauer. Kam ihm der sportliche Typ mit den kurzen Haaren, der so tat als käme er aus Bayern, obwohl er sprach wie jemand von nördlich des Weißwurstäquators, tatsächlich bekannt vor?
»Im Leopoldistüberl sitzen viele Leute beisammen. Aber die wenigsten davon mit einem Apfelsaft«, sagte er.
Moritz kramte den Ausweis aus seiner Hosentasche hervor und hielt diesen dem Wiener Kollegen unter die Nase.
»Kriminalpolizei München. Aha. Da haben Sie sich aber ganz schön verfahren.« Der Kollege zeigte sich nur bedingt beeindruckt.
»Ich habe dich doch gebeten, draußen zu warten«, sagte auf einmal eine vertraute Stimme im Hintergrund.
Die zur Stimme gehörende Hand legte sich auf eine ebenso vertraute Art und Weise auf Moritz’ Schulter.
»Schon gut, er gehört zu uns«, fuhr Vera Rosen fort und bedeutete dem Streifenpolizisten, dass er Moritz und sie durchlassen solle.
»Jawohl Frau Chefinspektorin«, antwortete dieser und ließ beide gewähren.
»Gratuliere, hast du den Verband wie erhofft losbekommen«, sagte Moritz zu Vera.
»Ja, endlich«, sagte die Kollegin, der er Anfang Oktober im Kommissariat zugeteilt worden war. Sie hatte sich im August den linken Arm gebrochen und lief seither mit einem Spezialverband umher. Sie war stolz darauf, dass sie sich nach dem Unfall nur eine Woche lang hatte krankschreiben lassen. Andere Stimmen im Kommissariat meinten, sie hätte ja ohnehin nichts anderes in ihrem Leben als den Beruf, und dass sie allein deshalb schon so schnell wie möglich wieder im Kommissariat sitzen wollte. Weitere Nahrung erhielten diese Gerüchte Mitte Oktober, als Vera ihren Geburtstag gefeiert und bei sich zu Hause zu einem kleinen Umtrunk eingeladen hatte. Im kleinen Kreis stand auf der Einladung. Anwesend waren nur eine Handvoll Kollegen, dazu ihr Golden Retriever Lucca und ihr Kanarienvogel namens Djibouti.

Auf das Foyer, in dem sich auch die Kassen befanden, folgte nach der Eingangskontrolle ein runder Raum inklusive Riesenrad-Ausstellung sowie die bei Touristenattraktionen übliche Fotostation. Moritz suchte generell nicht unbedingt das Rampenlicht, sein Instagram-Account zeigte kein einziges Selfie. Und Vera war viel zu unzufrieden mit ihren Pfunden, als dass sie sich jemals freiwillig in die Nähe eines Fotoapparates begeben hätte. Sie überlegte sogar schon, ihre Kurzhaarfrisur ein bisschen länger wachsen zu lassen, nur damit ihr Gesicht nicht so rund aussah. Dass sie durch den Armbruch im Sommer mehrere Wochen nicht mal mit Lucca Gassi gehen konnte und dadurch nochmal einige Pfunde hinzukamen, förderte ihr Selbstbewusstsein auch nicht wirklich. Die Fotostation ließen beide also mit gutem Gewissen aus.

»Na Huber, was haben wir denn hier Schönes?«, fragte Rosen einen uniformierten Kollegen.
»Dort oben hängt einer.«
»Ist nicht wahr. Ein echter Blitzgneißer, der Kollege Huber.«
Blitzgneißer, notierte Moritz in seinen Notizblock. Wie immer, wenn er hier in Wien einen Dialektausdruck aufschnappte, den er noch nie zuvor in seinem Leben gehört hatte. Er hatte sich mit der Zeit abgewöhnt, ständig nach der Bedeutung von Worten zu fragen. Die Kollegen zogen ihn dann meistens auf und machten sich über ihn lustig. Wie er denn hier polizeilich tätig sein wolle, wenn er nicht einmal die Leute verstehe. Und weiterer Blödsinn, den er lieber schnell wieder vergaß.
»Na dort oben hängt er ja ganz gut. Haben Sie schon mit jemandem hier unten gesprochen?«, fragte Vera den Kollegen Huber.
»Nein, das wollten wir Ihnen überlassen. Der verantwortliche Dienstleiter des Riesenrades steht dort drüben.«
Der uniformierte Herr Huber zeigte zu einem Herrn mit einem roten Hemd und einer roten Krawatte, der am Fuß der Rampe stand und ziemlich aufgelöst dreinblickte.
»Das ist eine Katastrophe«, sagte der Mann zu Vera.
Er hätte es in diesem Moment wohl auch zu jeder anderen Person gesagt, die bei ihm vorbeigekommen wäre. In diesem Fall waren es halt Vera Rosen und Moritz Ritter.
»Wenn sich herumspricht, dass sich hier ein Selbstmörder erhängt hat, setzt doch keine Familie mehr einen Fuß in unser wohlfeines Etablissement.«
»Wieso denn Selbstmörder? Haben Sie gesehen, wie er nach oben gekraxelt ist und sich aufgehängt hat?«, fragte Vera.
»Nein, das natürlich nicht. Aber wie soll das denn sonst passiert sein?«
»Das werden die Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung für uns schon noch herausfinden. Jedenfalls erscheint es mir äußerst unlogisch, dass sich ein Selbstmörder dort oben aufhängt und sich anschließend noch eine Wunde zufügt.«
Vera zeigte mit dem Finger auf einige rote Flecken, die neben der Rampe, genau unterhalb des hoch in der Luft stehenden Waggons mit der Ziffer zwei, zu sehen waren.
»Vielleicht hat ihn ja ein Vogel angepickt«, versuchte der Riesenradler seine Selbstmord-Theorie zu verteidigen.
Vera Rosen schenkte ihm dafür einen genervten Blick, Moritz musste bei der bildlichen Vorstellung, dass ein Vogel einen Selbstmörder anpicken könnte, innerlich schmunzeln.
»Ja genau. Vielleicht war der Vogel ja gerade auf der Suche nach Material für den Nestbau«, sagte der Kommissar aus München und in einer ersten kurzen Reaktion nickte ihm der Riesenradler heftig zu, bevor er schließlich merkte, dass Moritz’ Anmerkung nicht gar so ernst gemeint war.
»Gestern Abend hing der Gute demzufolge noch nicht dort oben an der frischen Luft?« Vera brachte wieder eine Prise Ernsthaftigkeit ins Gespräch zurück.
»Nein, das wäre doch aufgefallen.«
»Wann sperren Sie denn in der Früh auf?«, fragte Vera.
»Die erste Fahrt beginnt Ende Oktober um zehn Uhr. Natürlich ist schon zuvor Personal im Hause, macht einen Check und kontrolliert alles.«
»Und Ihren Mitarbeitern ist heute Morgen nichts aufgefallen? Wo doch eh nochmal alles kontrolliert wird.«
Vera betonte die Worte mit der nochmaligen Kontrolle bewusst eine Spur provokativer, woraufhin der oberste Riesenradler für einen kurzen Augenblick betreten auf den Boden blickte.
»Sie haben ja recht, eigentlich hätte das den Kollegen auffallen müssen. Aber wie heißt es so schön, Nobody is perfect.« Er quälte sich zu einem Lächeln. »Sehr wohl ist uns aber ein aufgebrochenes Tor aufgefallen. Das muss ebenfalls heute Nacht passiert sein«, sagte der Riesenradler. »Wann können wir ihn denn endlich von dort oben runter holen?«, fragte er anschließend.
»Wenn die Spurensicherung die Steuerung und die Zugänge zu Ihrem Betrieb untersucht hat. Vorher wird hier gar niemand heruntergeholt.«
Das Lächeln im Gesicht des Riesenradlers wurde noch eine Spur gequälter.

Georg Hörl, von allen nur der dürre Schorsch genannt, und sein Trupp von der Kriminaltechnik erledigten das Notwendige in aller Professionalität und Kürze. Mittlerweile hatte sich der Fall auch zur Leiterin der Abteilung Delikte gegen Leib und Leben, Andrea Zelinka, herumgesprochen. Diese konnte ihre Aufregung ob dieses delikaten Falles am Telefon nicht verbergen. Und hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer dort oben am Riesenrad in der Luft baumelte, ihre Stimme hätte sich wahrscheinlich noch viel mehr überschlagen.
Sie bat Vera um äußerste Diskretion, immerhin handelte es sich beim Riesenrad um eine der Wiener Sehenswürdigkeiten schlechthin. Moritz kam diese Ausgangssituation sehr bekannt vor. Sein erster Fall in München drehte sich um einen Mord im Münchner Stadion. Auch die damalige Mordermittlung war eine sehr heikle Angelegenheit und seine damaligen Vorgesetzten hatten ebenso panische Angst vor einem medialen Aufruhr. Moritz war im Mai sehr froh gewesen, als der Fall endlich aufgeklärt war und zu den Akten gelegt werden konnte.
Als der dürre Schorsch sein Okay gegeben hatte, setzte ein Mitarbeiter das Riesenrad wieder in Gang. Die Waggons wanderten langsam im Uhrzeigersinn nach unten. Die Polizisten und der Riesenradler nahmen an der Plattform ihre Position ein, an der sonst die einzelnen Waggons zum Ein- und Ausstieg hielten und warteten gebannt auf den Waggon mit der Nummer zwei.
»Den kenn ich doch«, sagte der Riesenradler, als der Waggon mit dem darunter baumelnden leblosen schmalen Körper näher rückte. »Das ist doch der Herr Karl vom Karltheater in der Praterstraße.«
Er hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. Kurz bevor der Waggon mit dem fliegenden Karl gegen die Plattform donnern konnte, stoppte der Mitarbeiter das Riesenrad. Der dürre Schorsch schnappte sich einen seiner Mitarbeiter und kletterte die Plattform hinunter, um sich die Leiche genauer ansehen zu können. Der Tote trug eine Weste, wie sie auch Kletterer oder Fassadenreiniger benutzten. An der Rückseite war ein Karabiner in jene Stahlhalterung eingehängt, die an der Querseite unter jenem Waggon verlief. Erhängt hatte der gute Herr Karl sich also nicht. Dafür war nun deutlich zu erkennen, woher die rote Flüssigkeit rührte. Mehrere Verletzungen im Bauchbereich sorgten für einen – mittlerweile nur noch tröpfelnden – Blutwasserfall. Moritz war gespannt, wie der Riesenradler dies in seine Selbstmordtheorie einbauen und mit den pickenden Vögeln kombinieren würde.
»Na den habens aber ordentlich her'grichtet«, sagte Vera und Moritz dachte für einen Augenblick, ein Stückchen Bewunderung und Anerkennung in der Stimme seiner Wiener Chefin zu vernehmen.
Die Spurensicherung pflückte den Herrn Karl vom Haken und legte die Leiche auf den Boden.
»Na serwas«, sagte der dürre Schorsch. »Schauts euch mal die Schweinerei an.«
Er schnitt das blutrotgetränkte Hemd des Opfers in der Mitte auf und schob beide Hälften zur Seite, wodurch die Polizisten einen Blick auf die Brust des Toten werfen konnten.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Moritz, »Das sieht ja aus wie ein Smiley.«
»Wie ein trauriger Smiley«, korrigierte ihn der dürre Schorsch.
Dem Riesenradler hatte es spätestens jetzt komplett die Sprache verschlagen. Kein Wort mehr zum vermeintlichen Selbstmörder oder zu den pickenden Vögeln. Vera Rosen beugte sich über den Toten. Sie hatte sicherlich zuvor auch mal ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen, doch sie bezweifelte, dass sie ihn auf der Straße erkannt hätte. Und nun lag er vor ihr, der leblose Herr Karl. Ein hagerer Mann, zwischen fünfzig und sechzig. Dunkle Haare, Schnauzer und eine Nickelbrille, die sich trotz der Übernachtung am Riesenrad nach wie vor stilsicher auf seiner Nase festhielt.
»Die Frage, woran er gestorben ist, können wir uns wohl sparen«, sagte Vera Rosen zu den Kollegen der Spurensicherung.
»Niemals voreilig urteilen, Frau Kollegin, niemals voreilig urteilen! Vielleicht ist er ja an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben und die Wunden hat man ihm erst später zugefügt und dann hat man ihn hier aufgehängt«, sagte der dürre Schorsch, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.
»Gut, dann soll sich die Gerichtsmedizin mal über ihn hermachen. Wir kümmern uns um seine Verwandten.«

Vera Rosen ließ sich vom Riesenradler den vollständigen Namen des Toten geben, der auch wusste, dass der Tote eine Wohnung in der Negerlegasse besessen hatte. Gemeinsam mit Moritz verließ sie den Ort des Geschehens – zu Fuß – in Richtung Donaukanal.

Hier zum Blättern:

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