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Ein Roman über den Kunststudenten Siyah, der in zwei Welten gefangen ist - die Trostlosigkeit der schwarzen Realität und die weiße Welt der Träume.

Ein Kurzroman über den jungen Kunststudenten und Lebenskünstler Siyah, der in zwei Welten gefangen ist: die Trostlosigkeit der schwarzen Realität und die weiße Welt der Träume.
Funding period
6/27/16 - 8/20/16
Realisation
Oktober 2016
Minimum amount (Start level): €
3,900 €
City
Freiburg im Breisgau
Category
Literature
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24.06.2016

Leseprobe No 1: Schwarzes Kapitel

Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri12 min Lesezeit

Hier für Euch die erste Leseprobe

***
Siyah war kein gewöhnlicher Mensch. Er war nicht einer von denen die morgens, alle anderen grüßend, zur Arbeit schlenderten. Und auch nicht einer von denen, die nach der Arbeit auf dem Sessel einschliefen.
Er war ungewöhnlich, doch keinesfalls etwas Besonderes.
Das Kunststudium hatte er sich anders vorgestellt, doch es war, wie sein Vater sagte; ohne Fantasie und Brot und mit viel Theorie. Vielleicht hatte er Kunst aber auch nur studieren wollen, um ein einziges Mal seinem Vater gegenüber seinen Willen durchsetzen zu können.
Um sich das Studium und das restliche Leben zu leisten, musste er nebenher als Bürokaufmann arbeiten. Durch den stattlichen Lohn konnte er aber in wenigen Arbeitsstunden das nötige Geld für ein zufriedenstellendes Jugendleben zusammenkratzen.

Siyah war Künstler - nicht etwa nur Maler oder Schreiber, sondern ein Lebenskünstler. Doch war diese Kunst keineswegs selbst ernannt. Ganz im Gegensatz zu seinem Titel. Seine Lebenskunst war gottgegeben.
Jede Nacht bevor er einschlief, bekam er Kopfschmerzen, die er «Hirnschmerzen« nannte. Nach der letzten Mahlzeit des Tages dachte er im Bett nur noch an seine Sorgen.
Genau dann begann auch das Leid. Irgendwas klopfte gegen seine Schädeldecke und beruhigte sich nicht, egal was Siyah tat. Schlafen war nahezu unmöglich.
Kein allzu schönes Leben, könnte man meinen, wenn man seine zweite Krankheit nicht kannte.
Fast jeden Morgen war ihm so schwindelig, dass es schwierig war ins Bad zu gehen.
War er zu langsam, musste er zügig zurück ins Bett. War er dagegen zu schnell, stieß er sich an irgendwas an.
Mit den richtigen Schritten schaffte er es, musste aber sofort sein Gesicht waschen, die Zähne putzen und dann zurück ins Bett.
Im Bett musste er dann überlegen, ob er zur Arbeit sollte oder nicht.
Letztlich entschied er sich immer für die Arbeit, kam aber wegen der Unentschlossenheit meistens zu spät.
An Tagen, an denen ihm nicht schwindlig war, musste er in der grauen Frühe los. Zu dieser Uhrzeit waren nur wenige Menschen unterwegs und hier grüßten die Menschen nicht etwa aus Freundlichkeit, sondern Solidarität.
Schon nach kurzer Zeit Aufenthalt im Büro, begann der tägliche Schlaf anzuklopfen. Einen »Fünfminutengähner« nannten ihn seine Kollegen.
Wieder Zuhause, begann er sein wirkliches Leben zu leben.
Meist las er zuerst ein Buch seines Lieblingsautors - er schreibt selbst irgendwelche Geschichten.
In den ersten zwei Stunden ist er aber nicht sonderlich kreativ, deshalb verwirft er die entstandenen Werke zerknittert in den Müll.
Irgendwann vor Mitternacht beginnt dann die wirkliche Arbeit und sie dauert meist bis tief in die Nacht.
Sein Arbeits- und Studentenleben geraten in den Hintergrund und stellen nur eine zeitlich festgelegte Qual für das Täglich Brot dar.
Er malt und schreibt, wie es ihm gerade beliebt, und versucht - wenn auch nur geringfügig - der Wirklichkeit zu entfliehen.
Während seine Pinseleien trocknen, backt er etwas und betrachtet seine Werke in regelmäßigen Pausen.
Der Grund für das morgendliche Kopfdrehen ist auch leicht zu verstehen, wenn man ihm in der Nacht aufmerksam zusieht: Entweder trinkt er zu wenig oder er trinkt aus dem Glas, in das er die Farbpinsel eingetaucht hatte.
Sein feiner Geschmackssinn verrät ihm natürlich, dass er Farbe getrunken hat, aber in der Künstlerekstase kümmert ihn das nicht weiter.
Unzufriedenheit in seinem Leben war ihm dabei stets ein Segen. Ebenso sein unzufriedenes Auge bei der Betrachtung seiner Bilder.
Immer gibt es etwas zu verbessern in seinen Werken. Er könnte immer weitere Einzelheiten hinzufügen, doch bricht er irgendwann in Ungeduld ab.
Wenn er die Werke allerdings später noch einmal betrachten würde, fürchtet er, zu viele Fehler zu finden. Deshalb belässt er es auch dabei und seine Kunst bleibt stetig fehlerhaft.
Doch Fehler und die damit verbundenen Schmerzen oder Verluste, greifen nach dem Sinn des Lebens. Seine Krankheit, so vermutet er, hängt auch stark mit diesen Fehlern zusammen.
Doch was soll so schlimm daran sein, wenn er durch diese Fehler und eben genau diesem Schmerz den Sinn des Lebens besser versteht?
Eine Heilung seiner Krankheit hält er also für überflüssig und sogar widersprüchlich.
Nur durch Schmerz kann er sich lebendig fühlen. Nur durch ihn fällt er und fasst den lebensnotwendigen Beschluss wieder aufzustehen.
Und das jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.
Nur durch die Tiefen kann es Höhen geben. Denn ein stetig glückliches Leben, stellt für ihn eine Last dar. Langeweile und Konstanz.
Und der wichtigste Aspekt, der für den Schmerz spricht, ist seine Religion. Tatsächlich bedeutet Schmerz für ihn Gottesnähe. Wie jeder Mensch, der Gott vergisst, wenn die Rosen blühen und der Fluss plätschert, ist auch Siyah nur Gott nah, wenn die Dornen stechen und die Dürre kommt.
Immer wenn er also Schmerz oder Angst verspürt, weiß er, dass er Gott nahe ist. Und auch, dass er in diesem mickrigen Leben von Lügen, alles richtigmacht.
So lehnt er alles Glück ab, weil er Angst vor sich selbst hat. Angst davor Pech zu haben.
Denn wäre er wie alle anderen - und würde das Glück nur im Pech sehen, und nicht andersherum.
Er wäre kein Kopfschmerzer und kein Schwindeliger. Er wäre kein Künstler, kein Leser, kein selbsternannter Intellektueller.
Das Wort Lebenskunst, würde ihm immer tiefer zwischen die Fugen des Arbeitslebens geraten, bis er vergessen würde, was es ist.
Bis er eines Tages sein altes Ich leugnen würde und jede Erinnerung daran peinlich wäre. Er würde nicht hinterfragen und hinterfragt werden. Er würde sich von Gott verlassen fühlen und nur für die Norm religiös sein. Er würde ein gewöhnlicher Mensch werden und dazu ein überaus zufriedener.

Trotz seiner Selbstsicherheit und seiner großen Sammlung an Weisheit, wusste Siyah aber, er hatte nicht ausgelernt. Trotz der Entschlossenheit, wie er das Leben zu leben hatte, war er unwissend. Wissend sein - das ist ein unerreichbares Ziel und nicht ohne Grund.
Die Welt soll nicht aus Milliarden faulen Weisen bestehen, die alle von sich selbst behaupten, Erkenntnis erlangt zu haben. Eher aus vielen Einzelkämpfern, die jeden Tag mit Unmengen von Themen und Feinden zu kämpfen haben.
Er betrachtet das Leben als Komplex aus Geschichten. Jeder Einzelne der Milliarden hat eine Geschichte. Keine dieser Geschichten ist langweiliger, oder wertvoller als eine andere. Alle sind auf ihre Art und Weise wundervoll, schmerzlich, herzzerreißend.
»Das ist wieder mal interessant zu hören, Siyah«, unterbrach sie ihn im Rausch der Gedanken und Worte und lächelte dabei.
Sie klang nicht ironisch, aber es schien auch nicht ihr voller Ernst zu sein.
Sie? Sie war das Mädchen, das er liebte.
»Nur so interessant, wie meine Zuhörer das möglich machen. Kleine Andeutung - das geht an dich«, lächelte der Lebenskünstler zurück.
Außer kleinen Andeutungen hatte er bisher nicht viel getan, um ihr seine Gefühle klarzumachen.
Auf Siyahs Andeutung lachte sie herzlich. Ihre sonst so großen Rehaugen verkleinerten sich und er konnte genau erkennen, wo sie eines Tages ihre Lachfalten kriegen würde. Ob er dann noch bei ihr wäre, war eine andere Frage.
Ihr Lachen war etwas, das er wahrhaftig an ihr liebte. Es war unbefangen und wild, frech und eilig, etwas männlich, aber dennoch süß. Das hatte er ihr natürlich nie gesagt. Er verschwieg es, genau wie die Gefühle, die er für sie empfand.
Nicht die Schüchternheit hinderte ihn daran, seine Gefühle zu offenbaren, sondern reine Logik. Es sollte einfach nicht sein, dass die beiden zusammenkämen und deshalb hielt er es für klüger, das Ganze für sich zu behalten.
Schüchtern war Siyah nicht. Das war er - wenn überhaupt - als Kind gewesen, doch mittlerweile war aus dem kleinen schlanken Jungen ein weltoffener junger Mann geworden.
Seine schwarzen unordentlichen Haare waren jetzt ordentlich zusammengekämmt, seine großen braunen Augen waren zu kalten Perlen geworden. Seine Augenlider waren gesenkt, er schaute nicht mehr mit großen Augen auf die Welt. Denn alles was er von der Welt bekommen hatte, war schmerzlich gewesen und er hatte verstanden, wie kalt sie ist. Dennoch sprach nichts gegen einen Funken Optimismus und genau dieser lag unweigerlich im Glanz seiner Iris. Wer weiß, vielleicht machte ihn das so sympathisch, beliebt und freundlich?
»Oh, aber Entschuldigung!«, hob sie die Augenbrauen.
»Eigentlich habe ich dich gerade unterbrochen. Es ging um den Blickwinkel des Menschen und wie er sich in seiner Geschichte sieht«.
Das Lachen war verstummt und sie ge-währte somit die Fortsetzung des philo-sophischen Monologs.
Tatsächlich war es nichts weiter als ein Monolog gewesen, denn ob sie das Gesagte vollständig verstand, blieb offen.
»Na ja, ehrlich gesagt ist es einfach, den Blickwinkel zu erklären«, ließ er den Stift los und formte mit seinen Händen eine Art Würfel in die Luft.
»Stell dir einen Quader vor. Stell dir vor, du betrachtest ihn aus mehreren Perspektiven. Du wirst immer etwas anderes sehen. Dreiecke, Vierecke, Striche. Nun gut, entgegengesetzte Winkel zeigen dir vielleicht identisches. Aber das war’s auch«.
Zu seiner Verwunderung reichten seine Hände aber nicht, um zu verdeutlichen, was er meinte.
Ihre Blicke waren immer wieder mal in seine Augen, mal auf seine Hände gehuscht. Sie hatte ihn wohl nicht völlig verstanden und er wartete nur darauf, dass sie fragte, wovon er überhaupt sprach. Sie sah aber nur auf die leere Stelle des Papiers, über der Siyahs Hände vor einem Moment noch waren, dann nahm sie einen Finger und streichelte ihre Wange.
Schon war er vertieft in ihre Wangen. In ihre weichen Wangen, die er nie berühren würde.
Ob sie bemerkte, dass Siyah sie manchmal länger ansah, als er eigentlich sollte?
Scheinbar schon, denn sie unterbrach seine kurze Trance mit der erwarteten Aufforderung:
»Jetzt nochmal so, dass ich es verstehen kann, bitte«.
Dabei blinzelte sie ihn grinsend an.
Traumhaft. Welch traumhaftes Grinsen sie hatte. Ihre Zähne waren natürlich weiß und die obere Zahnreihe endete dabei genau auf ihrer Unterlippe.
Unschuldiger und makelloser ging es vermutlich nicht.
Auch dass sie etwas nicht verstand, konnte Siyah nicht reizen. Wenn andere etwas nicht verstanden, hätte er sich abgewandt, das wusste er.
Er mochte es eigentlich nicht sich zu wiederholen. Vor allem weil er das was er sagte, immer genauestens beschrieb und die Schuld meistens beim Zuhörer lag. Dieser war möglicherweise für einen kurzen Moment abgelenkt und hatte deshalb nicht verstanden.
Bei ihr war das allerdings kein Problem, sie durfte so oft fragen, wie sie wollte und dabei auch gerne ihre Wange mit dem Zeigefinger streicheln. Am liebsten sollte sie dabei grinsen und künstlich oft blinzeln.
Siyah zeichnete nun ein paar Quader aus verschiedenen Blickwinkeln auf das leere Blatt, dessen Rückseite mit Übungen vollgeschrieben war.
»Das Geheimnis liegt darin, sich selbst zu formen«, sah er sie ernst an.
»Durch die Formung, wird der Blick anderer und von sich auf seine Geschichte, perfekt«.
»Perfekt?«, wiederholte sie mit großen Augen.
»Natürlich nicht vollständig perfekt. Also eigentlich nicht perfekt und irgendwie doch«, schwang Siyah mit dem Stift herum.
»Die perfekte Form ist nämlich die Kugel.«
Er zeichnete nun drei Kreise neben die Quader.
»Egal, aus welchem Blickwinkel du eine Kugel ansiehst, du wirst immer einen Kreis sehen. Das ist perfekt - auch wenn es nur Theorie ist.«
Er schattierte beim Erzählen die Kugeln ein wenig, streckte unbewusst die Zunge raus und hoffte, dass sie das nicht sah.
Als die Kugeln mit Schatten versehen waren, sah er sie wieder an. Sie hatte seine Hand beim Zeichnen beobachtet und entgegnete nun seinen Blick. Der unbezahlbare Moment, wenn sich zwei Menschen fröhlich in die Augen sahen.
Er war erstaunt.
Denn für seine philosophischen Sätze machte er sich vorher nie Überlegungen. Er plante nicht voraus, was er sagen wollte. Der Wortfluss bildete sich einfach im Verlauf der Gedanken und war die natürlichste Form seiner Intelligenz. Es war kein Planen oder Auswendiglernen, sondern der freie Lauf seines Verstandes.
»Eine Kugel, soso«, sie hob eine Augenbraue und ihre Mimik schien skeptisch.
Mit Gegenwind hatte er nicht gerechnet. Seine Theorien ergaben für ihn selbst doch immer Sinn. Seine Denkweise beinhaltete auch viele andere Denkweisen, denn er hatte mit so vielen Menschen über solche Dinge gesprochen; wie konnte es sein, dass es für Aynaz keinen Sinn machte?
»Ja, wieso, was ist denn dabei?«
»Na, ganz einfach. Du sagst, eine Kugel sei perfekt. Eine Kugel sei das Endziel. Du sagst, die Kugel ist, was wir alle anstreben sollten. Allerdings hast du auch gesagt, dass wir alle anders sind - anders sein sollten. Eine Welt voller Kugeln als Ideal? Nein, danke, aber, nein.«
Ihr Hinterfragen war für ihn eine angewandte Intelligenz. Sicherlich ebenso ausschlaggebend für seine Gefühle für sie, wie ihr Aussehen.
Aynaz ließ sich nicht immer belehren, aber ging gerne auf Diskussionen ein, und wenn die andere Person doch Recht hatte, akzeptierte sie das. Wenn sie nicht seiner Meinung war, entstand nun mal eine Situation wie diese.
Natürlich ergab beides Sinn. Sowohl das Formen in eine Kugel, als auch dessen Ablehnung. Auch das war eine Frage des Blickwinkels.
Betrachtete man das Ganze nämlich in Bezug auf ein Kollektiv, bedeutete es Vergrauung. Wenn es allerdings um das Individuum ging, war es die Ausbildung zum Lebensguru.
Das hätte Siyah hinzufügen können, wollte er aber nicht. Er musste nämlich nicht immer das letzte Wort haben, auch wenn er es in diesem Fall gerne hätte.
Aber er wollte auch nicht andere immer belehren, obwohl das eine Lieblingsbeschäftigung seinerseits war.
Des Weiteren wusste er nicht, ob sie den Gedanken mit der Vergrauung und den Gurus verstanden hätte, also ließ er es bleiben.
Sie hörte kurz der Stille zu und drückte reflexartig den Stuhl mit ihren Beinen nach hinten.
»Na ja«, sagte sie dabei.
»Na ja«, murmelte es aus Siyah noch heraus.
»Ich muss dann los, wir sehen uns.«
Sie verabschiedete sich und packte ihre Sachen und verschwand.

Ein toller Mensch - nur stürmisch irgendwie. Er konnte den letzten Gedanken also nicht loswerden, über dessen Befreiung er sich noch nicht geeinigt hatte.
Im nächsten Gespräch würde es keinen Sinn mehr machen und er hätte den Gedanken womöglich verdrängt. Oder aber es käme eigenartig rüber, als denke er nur über sie nach, was er in Wirklichkeit zwar tat, aber das durfte sie ja nicht wissen.
Das schnelle Verschwinden war allerdings immer so eine Sache von ihr. Es war nichts Einmaliges - sie tat das öfter. Immer eigentlich.
Eine höfliche Verabschiedung hielt dieser Mensch wohl für überflüssig. Es störte ihn sehr, wenn sich jemand nicht verabschiedete - er war ein großer Unterstützer altmodischer Manieren - aber bei ihr war eben alles anders.

***

zum Durchblättern und Ausdrucken:

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