Crowdfunding since 2010

Flüchtlingskrise aufgedröselt in Einzelschicksale. Gegen Vorurteile und Sammelbegriffe für Menschen.

Entstehen soll eine Sammlung an Interviews - teils schriftlich, teils als Audiospur, teils mit Gesicht, teils ohne, teils mit vollem Namen, teils anonym... - die die anonyme wirre Masse an den Geflüchteten, die in der öffentlichen Debatte nicht zu Wort kommen, zu Wort kommen lässt: sog. "Wirtschaftsflüchtlinge" und andere gefährliche Schubladen mehr sollen mit diesem Projekt geöffnet und aufgebrochen werden - Kennenlernen statt Vorverurteilen und Verallgemeinern lautet die Devise.
Funding period
3/7/16 - 3/18/16
Realisation
bis Juni 2016
Website & Social Media
Minimum amount (Start level): €
1,200 €
Category
Journalism
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27.02.2016

Besuch eines vergessenen Orts mitten in Europa

Lena Reiner
Lena Reiner4 min Lesezeit

Zur Vorrecherche wollte ich mir neben der griechischen Insel Kos und den Unterkünften, die ich in Deutschland bereits kenne, weitere Orte ansehen - speziell Orte, die irgendwie vergessen worden sind. So hat es mich Mitte Februar nach Dunkirk/Dünkirchen/Duncerque verschlagen.

TAG 1 in Dünkirchen:
Am Samstagvormittag kommen wir an. Wir, das sind Kim, Laura, Niklas, Fabian und ich. Für Kim und Laura ist es der erste Einsatz dieser Art – ganz schön mutig, so anzufangen!

Beinahe wären wir am „Jungle“ vorbeigefahren, wie das „Camp“, das diesen Namen eigentlich gar nicht verdient hat, von allen genannt wird. Dunkirks Jungle liegt nämlich (anders als zum besser bekannten „Jungle“ von Calais, den ein Team von uns letzte Woche besucht hat) mitten in einem Wohngebiet gegenüber von einer kleinen Reihe Einheitshäuschen – was uns erstmal ziemlich aus der Fassung bringt. Hochmotiviert würden wir dennoch gerne am Volunteersmeeting teilnehmen, das unseren Infos nach vorm Eingang stattfinden soll – nur weiß davon hier niemand etwas und dann erreicht uns die erste schlechte Nachricht: Die Polizei lässt niemanden durch. Stur sprechen die Polizisten (wir zählen mindestens ein Dutzend und sehen sogar noch einen zweiten voll besetzten Mannschaftswagen heranfahren) ausschließlich auf Französisch mit uns und verlangen irgendwelche Authorisationspapiere, dann wollen sie plötzlich unsere Ausweise kontrollieren, gucken aber gar nicht richtig hin und hören nach zweien wieder zu kontrollieren auf. Dass hier polizeiliche Willkür herrscht, wird uns im Laufe unserer Anwesenheit vor Ort noch mehrfach klar oder berichtet werden.
Im Jungle selbst sehen wir übrigens zu keinem Zeitpunkt auch nur die Nasenspitze eines Polizisten. Nur an der Zufahrt und einem weiteren Eingang stehen sie und kontrollieren gerne penibel, wer rein, aber auch wer raus geht und vor allem, was er oder sie im Gepäck hat. Auch hier herrscht mehr die Willkür und weniger die Wahrung echter Sicherheitsstandards. (Während wir mit drei Sägen herumlaufen und diese vor den Augen der Polizei einem Bewohner des Jungles ausborgen, wird der Klamottensack eines anderen, der durch die Schranke kommen mag, angeblich auf Waffen durchsucht.)

Endlich drinnen angekommen, schlägt uns ein unangenehmer Geruch entgegen. Die Morastschicht auf dem Boden besteht aus Erde, Müll, aber auch Fäkalien – alles läuft hier irgendwie ineinander, wenn auch nur ein klein wenig Regen gefallen ist. Der Schlamm bleibt allerdings immer und so entsteht ein Gemisch, in dem sich dicke Würmer und Maden sehr wohl zu fühle scheinen – auch tote Ratten finden wir beim Aufräumen. Knöcheltief stapfen wir durch diese unschöne Mischung, sacken manchmal auch tiefer ein, sogar auf der einigermaßen befestigten „Hauptstraße“ setzen wir unsere Füße selten auf festen Untergrund.
Überfüllte Müllcontainer rahmen den Weg, dazwischen: Zelte, Menschen, Lagerfeuer und provisorische Küchen- und Schulzelte. Und vor allem eins: noch viel mehr Matsch, Müll, zurück gelassene und zerrissene Zelte. Matratzen dienen teilweise als Weg, weil man dann nicht ganz so sehr einsinkt. Verdenken kann man die zweckfremde Nutzung den Junglebewohnern nicht, denn hier herrscht Bauverbot. Paletten werden nur alle paar Wochen mal offiziell und sonst über Schleichwege in die Zeltstadt befördert. Sie reichen nicht ansatzweise dazu aus, ein Wegenetz zu befestigen oder zumindest alle bewohnten Zelte. Auch die versinken teilweise im Schlamm und laufen mit Schmodder voll, wenn es mal ein paar Stunden geregnet hat.

Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir uns noch auf demselben Kontinent befinden und sogar in der EU, in der ja eigentlich uns bekannte grundsätzliche Gesetze und Menschenrechte gelten (sollten). Allerdings zweifelt man hier nicht nur daran, noch in einem der Nachbarländer von Deutschland zu sein, sondern vergisst auch wahnsinnig schnell, dass nur ein paar Meter (maximal ein paar hundert Meter) weiter ein ganz normaler Ort mit richtig festen Häusern und sauberen Straßen ist.

Drinnen besteht unsere Aufgabe dann darin, Müll aufzulesen. Müll meint hier alles, was liegen bleibt, wenn ein Schleuser eine Familie abgeholt hat. Dann muss es nämlich schnell gehen und so landet alles im Morast: Essen, Kleidung, Kinderspielzeug und mehr. Alles, was eben zu viel Ballast für eine illegale Reise hinüber nach England wäre. Die Sachen saugen sich dann mit der dreckigen Brühe voll und so haben wir ganz schön was zu schleppen mit den vollen Müllsäcken. Was anfangs nach Sysiphosarbeit aussieht, zeigt dann doch tatsächlich Wirkung und am Ende eines langen Arbeitstages steht es dann: ein neues Zelt und sogar ein einigermaßen begehbarer Zugang ist uns gelungen.
Vor der Dunkelheit verlassen wir den Jungle auf Grund zahlreicher Sicherheitswarnungen und weil wir ziemlich erschlagen von den Eindrücken sind.

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