2. Brief von UNRAST: Was gerade auf Martins Schreibtisch liegt.
Liebe Freund*innen des Unrast Verlags,
dies ist der zweite Brief, den ihr aus unserem Büro erhaltet.
Das Verlegen von politischen (Sach-)Büchern unterliegt mitunter interessanten zeitlichen Verwerfungen. Neben der Tatsache, dass man sich fast immer zeitgleich in mehreren Saisons bewegt (der Hänger aus der letzten Saison geht gerade in Druck, während man an den letzten Korrekturen eines aktuellen Titels sitzt, aber sich gedanklich bereits intensiv mit den Titeln der kommenden Saison beschäftigt), treffen im Lektorat unter Umständen Buchprojekte, die jahrelang auf der Tagesordnung standen, sich aber einfach nicht realisieren ließen, auf verlegerische Schnellschüsse, die ein aktuelles Thema in kürzester Zeit umsetzen.
Letzteres trifft auf das Buch »Spezialoperation und Frieden« von Ewgeniy Kasakow zu, mit dem wir auf den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine publizistisch reagieren. Entstanden ist die Idee zum Buch auf einer unserer Programmkonferenzen, auf denen wir auch immer brainstormen, welche Bücher zu welchen Themen politisch gerade notwendig wären. Und weil uns – wie vermutlich den Großteil der Bevölkerung – der Krieg sehr beschäftigt, war eigentlich schnell klar, dass wir ein Buch zu diesem Thema machen wollten. Da wir als Unrast Verlag aber nicht die Geschichte der Herrschenden schreiben, suchten wir nach emanzipatorischen Kräften, die in diesen Konflikt involviert sind, sich gegen den Krieg positionieren und ausreichend politische Stärke besitzen, um gesellschaftlich etwas bewirken zu können. So stießen wir auf die innerrussische Opposition gegen den Krieg, von der Teile kurz nach Kriegsbeginn durchaus auch im Westen mediale Aufmerksamkeit erhielten. Vor allem die wie immer interessanten Artikel von CrimethInc. (deren Bücher zu lektorieren ich ebenfalls das Vergnügen hatte) über die anarchistische Opposition hatten wir auch im Verlag verfolgt. Doch es musste noch mehr geben… Wir suchten also nach einer Person, die Expert*in auf dem Gebiet ist, und fanden sie in Ewgeniy Kasakow, der bereits etliche Artikel in linken Medien zum Thema veröffentlicht hatte. Schnell war der Kontakt hergestellt und nach kurzer Bedenkzeit sagte der Autor zu. Nun begann der interessante, aber auch schwierige Prozess, aus einer Idee ein Buch zu machen. Wir erstellten also ein Grundkonzept, legten fest, welche Gruppierungen und Personen wir behandeln (das komplette linke Spektrum in Russland und der Diaspora) und wie wir das Buch insgesamt strukturieren (zwei einführende Kapitel: ein Überblick über die russische Linke und ein Kapitel darüber, wie der Krieg die Linke spaltet; dann der Hauptteil, der die verschiedenen Strömungen behandelt, die zuerst vom Autor vorgestellt und einsortiert werden, bevor sie durch Originaldokumente und Interviews selbst zur Sprache kommen). Seitdem befinden wir uns in diesem sehr lebendigen Prozess der Bucherstellung, bei dem auch immer Plan und Realität aufeinandertreffen und das Ergebnis erst feststeht, wenn es halt feststeht: Interviewpartner*innen sind plötzlich nicht mehr erreichbar und Übersetzungen ziehen sich zu sehr in die Länge, dafür tauchen neue, interessante Text auf und Aspekte geraten in den Fokus, die zuvor noch nicht präsent waren… und am Ende ist die Zeit wieder der ausschlaggebende Faktor und die Deadline erreicht, denn ein Buch zu aktuellen Geschehnisse muss zwangsläufig zeitnah zu diesen erscheinen.
Ganz anders verhält es sich mit dem Buch »Wer darf in die Villa Kunterbunt?« von Lisa Pychlau-Ezli & Özhan Ezli, welches umfassend das Thema Rassismus in Kinderbüchern behandelt. Ein Thema, zu dem wir schon seit 10 Jahren ein Buch publizieren wollen. 2012, also noch vor der sog. ›Kinderbuchdebatte‹, hatten wir bereits das Buch ›Das Gift der frühen Jahre‹ von Eske Wollrad angekündigt, das sich dann aber leider nicht realisieren ließ. Seitdem waren wir auf der Suche nach potenziellen Autor*innen für dieses Projekt – leider erfolglos (stattdessen publizierten wir so wunderbare Bücher wie »AfroKids« oder »Empowerment als Erziehungsaufgabe«). Und dann flatterte uns auf einmal Anfang des Jahres ein fertiges Manuskript mit dem Titel »Alltagsrassismus in Kinderbüchern« ins Haus, das zum einen eine hervorragende Einführung in das Themengebiet Alltagsrassismus bietet und zum anderen eine detaillierte Untersuchung der (auch modernen) Kinderbuchklassiker auf ihren rassistischen Gehalt hin. Nach einer kurzen Marktanalyse, die ergab, dass trotz der breiten Debatten 2013ff kein einziges Buch zum Thema erschienen ist, haben wir umgehend einen Vertrag aufgesetzt.
Das Lektorat ging ebenso leicht von der Hand. Sprachlich schon äußerst ansprechend verfasst, ging es vor allem darum, das Konzept ein wenig zu erweitern, nicht bei den Analysen, welche Kinderbücher warum rassistisch sind, stehen zu bleiben, sondern praktische Umgangsmöglichkeiten für Lesende (z.B. begleitendes Vorlesen, Verwendung diversitätssensibler Bücher etc.) wie Publizierende (z.B. kommentierte Auflagen, Triggerwarnungen, antirassistische Siegel etc.) aufzuzeigen. Darüber hinaus war es uns wichtig, dass die Autor*innen die grundlegenden Diskussionen der ›Kinderbuchdebatte‹ um Kunstfreiheit, cancel culture, Zensur und political correctness, die bis heute virulent sind, skizzieren und Stellung dazu zu beziehen. So ist ein wunderbares Buch (mit einem schön knalligen Cover von Felix Hetscher) entstanden, das eine große Lücke auf dem deutschen Buchmarkt füllt und schon seit langer Zeit dringend benötigt wird.
Solidarische Grüße,
Martin für den Unrast Verlag