Piazzolla & Bach – Gedanken zu einem argentinisch-barocken Crossover
Eine Gegenüberstellung zweier Komponisten völlig unterschiedlicher Zeiten, Kulturkreise und Genres muss Fragen aufwerfen. Piazzolla kennt man als reinen Tango-Komponisten. Naheliegender wäre es vielleicht erschienen, zum Beispiel Johann Strauß daneben zu stellen – einen Komponist, der ebenfalls ausschließlich Tänze komponierte – Walzer, Polkas und Märsche eben.
Nur: Für Strauß hat sich Piazzolla nicht interessiert. Dass er aber über Bach erst zur Musik fand und sich zeitlebens für seine Musik begeistern konnte, ist durch Piazzollas Selbstaussagen ausführlich belegt. So fand er seinen ersten Musiklehrer, Bela Wilda, weil er ihn in New York Bach hatte üben hören und von der fremden Musik verzaubert war. Und bald schon fing er, mit Wildas Hilfe an, Bach auf dem Bandoneón zu üben.
Die Beziehung ausgerechnet zu Bach geht also unbedingt von Piazzolla aus, der sich ja selbst lange als Komponist ‚seriöser‘ sinfonischer Musik sah und der sich eben lange und entscheidende Jahre seines Lebens schwer tat mit dem Tango – den er durch tägliches Spiel, zahlreiche selbstangefertigte Arrangements und nicht zuletzt durch die Tangoleidenschaft seines Vaters zugleich besser kannte als sonst irgendetwas.
Im Rückblick erscheint die Gründung des Tango nuevo jedenfalls absolut schlüssig: In genau die Zeit, in der der Tango sich nur noch zu reproduzieren schien, in der die jüngere Generation sich vom Tango ab- und dem Beat und Rock’n Roll zuwandte, tritt einer, der sowieso immer schon mehr wollte als ‚nur‘ Tango; der sich von der Improvisation des Jazz, vom kontrapunktischen Geflecht eines Bach, von den atemberaubenden Rhythmen eines Stravinsky, von den freien Harmonien eines Bartók oder Ravel inspirieren lässt.
Nun also Bach. Vier Stücke haben wir gewählt: einen Choral, den wir mit Piazzollas Tango 'Coral' kombinieren. Piazzolla schrieb das Stück vermutlich in seiner Pariser Studienzeit; dort hatte er, u.a. zusammen mit seinem Landsmann Lalo Schifrin, ein Streichorchester mit Musikern der Pariser Oper zum Experimentieren gegründet. Piazzollas Coral kommt geradezu existenzialistisch daher, mit sperrigen Harmonieverbindungen und einer extrem kontrastreichen Dynamik um einen fast transzendenten Mittelteil herum. Demgegenüber wirkt Bachs Choral 'Jesus bleibet meine Freude' aus seiner Kantate 'Herz und Mund und Tat und Leben', BWV 147, extrem leicht und melodiös. Die Kantate wurde zum 1. Advent 1723 in Bachs erstem Jahr als Thomaskantor in Leipzig geschrieben. Der Choral erfuhr zahlreiche Bearbeitungen und zählt auch daher zu seinen bekanntesten Stücken überhaupt. Eine Version der Pop-Band Apollo 100 schaffte es 1972 unter dem Titel Joy auf Platz 6 der US-Charts. Während die Band aus dem triolisch-fließenden 3/4-Takt einen rockigen 4/4 machte, klingt unsere Fassung wie von weit her, aus einer anderen Zeit oder Raum. Leichte Irritationen schaffen Beziehungen zum Jetzt und Hier; den Chor des Originals ersetzen Bratschen und Celli mit Dämpfern, die den Klang von Gamben imitieren – Streichinstrumente, die zu Bachs Zeit schon selten wurden.
Einen Satz aus Bachs »Doppelkonzert für Oboe und Violine« haben wir umbesetzt: Die Oboenstimme übernimmt jetzt das Bandoneón – ebenfalls ein Blasinstrument, indem die klingenden Metallzungen im Inneren ja mit Luft betrieben werden. Allerdings muss niemand atmen, das ermöglicht im besten Fall einen noch größeren Bogen.
Bach selbst war in Besetzungsfragen sehr pragmatisch: Er nahm normalerweise, wer oder was gerade vorhanden war und passte seine Musik den Umständen an. Nur in Ausnahmefällen war eine bestimmte Besetzung unveränderlich. Das belegen nicht zuletzt Bachs Arrangements von Werken von Kollegen, aber auch eigener Werke.
Das 'Air' wiederum entstammt der 3. Orchester-Suite D-Dur, BWV 1068, also einer Folge von Tanzsätzen. Daraus ist dieser sicherlich der am wenigsten tänzerische, aber der populärste Satz. Zwar gibt es in unserer Fassung für Streicher und Bandoneón keine Improvisation – aber es hätte eine gewesen sein können… Jedenfalls bildet es stimmungsmäßig eine Art Gegenbild zu Piazzollas Oblivion: Während der Satz bei Bach durch alle Höhen und Tiefen warm und stetig klingt, bleibt bei Piazzollas Zeichnung von ‚Vergessenheit‘ doch das Abgründige spürbar.
Das Ricercar a 6 schließlich bildet einen Höhepunkt in Bachs Werk. Das 'Musicalische Opfer' entstand bei einem Gelegenheitsbesuch Bachs 1747 am Hof Friedrich des Großen in Potsdam, wo sein Sohn Carl Philipp Emanuel als Cembalist und Kammermusikus wirkte. Der König selbst soll Bach ein Thema gegeben haben, über das jener frei improvisieren solle. Bach improvisierte unter viel Applaus eine dreistimmige Fuge am Cembalo, am darauffolgenden Abend ließ er noch eine sechsstimmige folgen. Nach seiner Heimkehr arbeitete er beide aus und versah diese zusätzlich mit einigen Kanons, einer Triosonate und einer ausführlichen Widmung. Womöglich hat er auch das Thema selbst seinen Bedürfnissen oder Möglichkeiten angepasst – die originale Vorgabe Friedrichs ist natürlich nicht überliefert – und auf den zweiten Blick scheint das Thema zu komplex, zu genial, um von einem Liebhaberkomponisten, der Friedrich ja durchaus war, zu stammen.
Hier also verbinden sich Improvisation und kunstfertigste Ausarbeitung aufs Großartigste – und genau das mündet schließlich in Piazzollas Kontrapunktmeisterwerk 'Fuga y misterio', das seiner (einzigen) Tango-Oper Maria de Buenos Aires entnommen ist.
(Auszug aus dem Programmheft zu 'Fuga y misterio | Piazzolla & Bach')
Das Video ist ein Ausschnitt des Konzertes am 04.09.2022 in Eckernförde, St. Nicolai. Zu hören: Ausschnitte aus 'Adios Nonino' und 'Libertango'.