Abgehängt – Das deutsche Sozialsystem im europäischen Vergleich
Letzten Donnerstag habe ich mich mit einer Delegation aus Geschäftsführer*innen niederländischer und belgischer Jobcenter getroffen. Over de grens (über die Grenze) hieß das Programm, das Jurgen Woudwijk, ehemaliger Mitarbeiter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und Berater deutscher Jobcenter, organisiert hat. Ziel der Studienreise war ein Austausch über die jeweiligen Sozialsysteme.
Ich war eingeladen, um über die Arbeit von Sanktionsfrei zu berichten. Herausgestellt hat sich vor allem eines: Das deutsche Sozialsystem ist eines der Härtesten in Europa. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt haben wir im europäischen Vergleich einen der niedrigsten Regelsätze für Erwerbslose und die härtesten Bedingungen (1-Euro-Jobs, Mitwirkungspflicht, Sanktionen). Als einzige überhaupt definieren wir Leistungen wie Kindergeld und Kindesunterhalt als Einkommen, was zur einer Kürzung des Regelsatzes führt.
Und während in vielen europäischen Ländern an Verbesserungen der Systeme gearbeitet wird, berät der deutsche Bundesrat aktuell noch über Verschärfungen. Dabei bescheinigen bereits zahlreiche Studien die Ineffizienz von Hartz IV. Die Tschechische Republik und andere ehemalige Ostblockländer zum Beispiel haben sich beim Neuaufbau ihrer Sozialsysteme am Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen orientiert. Im Vordergrund stand dabei die Armutsbekämpfung. In Deutschland hingegen werden theoretische Finanzpläne zu Grunde gelegt, um den Regelsatz zu bemessen. Der Fokus liegt nicht auf dem Bedarf der Menschen, sondern auf dem Bedarf des Systems selbst. Damit liegt Deutschland weit zurück im europäischen Vergleich.
Die Niederlande denken visionär nach vorne. Dort wird derzeit in mehreren Städten mit Grundeinkommen experimentiert. Die Stadt Utrecht und die dortige Universität haben das Projekt initiiert, einige Städte folgen ihnen bereits. Im Utrechter Experiment erhalten rund 300 Teilnehmer*innen, die bereits Sozialhilfe empfangen, monatlich ungefähr 1000 Euro Grundeinkommen. Einigen wird es als gewöhnliche Sozialhilfe ausbezahlt, sie müssen gewisse Bedingungen erfüllen, um das Geld zu bekommen. Andere erhalten ihr Grundeinkommen bedingungslos. Sogar für den Fall, dass sie einen neuen Job finden, erhalten sie weiterhin monatlich ihr Grundeinkommen.
Das Experiment soll ermitteln, welcher Weg mehr Anreize zur Weiterbildung und Jobsuche bietet – Kontrolle, Druck und Überwachung seitens der Arbeitsämter oder finanzielle Sicherheit? Auch in Finnland startet in diesem Jahr ein zweijähriges Experiment mit bedingungslosem Grundeinkommen und in der Schweiz wird es am 5. Juni eine Volksabstimmung darüber geben.
Das Deutschland so hinterherhinkt ist sehr schade. Allerdings zeigt der Vergleich auch: Andere Modelle für eine Grundsicherung sind realistisch und greifbar nahe. Ergreifen wir auch hier die Initiative. Schaffen wir das Unrecht ab, machen wir Deutschland sanktionsfrei!