'take you to the kandie shop' by Frank Berzbach
Um 8 Uhr öffnete das Waisenhaus der Kreativszene auf St. Pauli, der Kandie Shop. Alles andere hat nämlich geschlossen oder liegt zu nah am Wodka gebaut oder zu nah an der Reeperbahn, alles andere versucht pöseldorfer Preise einzuführen und Bananenbrot nur noch hauchdünn zu schneiden.
Foto: © Irène Zandel
Ich will morgens in den Kandie Shop, damit die Stunde vor dem Büro etwas ist, aus der ich ein Gefühl und viele Ideen mitnehmen kann. Ich kämpfe um die SZ, darf mein Croissant selbst aussuchen und Hafermilch in den starken Kaffee träufeln. Der Geruch von Zimtschnecken versetzt in weihnachtliche Stimmung. Neulich lag eine Mandarine auf meinem Tisch und gestern stand dort ein Einhorn, von welchem Kind auch immer. Das Geräusch des Siebträgers ist eine Morgenmelodie, auch die Goldenen Zitronen hätten erfinden können. Das Personal ist weder schroff noch textet es einen zu, es behandelt einen wie ein Familienmitglied. Ein Wohnungsloser lädt sein Telefon auf, ein Schriftsteller und ein berühmter Musiker sitzen in der Ecke, ein Mann nimmt jeden Morgen ein Käsebrötchen, eigentlich nimmt hier jeder immer das, was er immer nimmt, das muss kein Laptop speichern, das weiß die Frau hinter der Theke einfach. Die Anwesenheit der Fahrradkuriere beruhigt mich.
Es muss eine Konstante geben in dieser verschwindenden Welt und hier ist sie: die Musik verbindlich, der Kaffee hervorragend, ein Hund legt seine Schnauze vertrauensvoll auf meinen Oberschenkel, während mir jemand die Zeitung beiläufig wegnimmt. Man muss den Kaffee eigentlich selbst an der Theke holen und doch bekommt man ihn hingestellt oder ein anderer Gast übernimmt das. Hier hat man noch Respekt und Wohlwollen und überhaupt hat man hier eben die Wohlwillstraße. Hätte es das Café schon gegeben, Lennon hätte sich nicht in den Hauseingang der Jägerpassage gestellt, er hätte hier gesessen. Ich sitze jeden Montagmorgen auf dem Platz, auf dem John Lennon gesessen hätte. Und vielleicht sitzt in einer Ecke hier der nächste John Lennon, so ein Ort ist das hier. Ich habe die Zeitung von einer Schauspielerin zurückerobert, aber nun hat sie mir eine Bühnenbildnerin wieder abgenommen. Aber ich weiß sowieso schon genug, weil sich die Leute hier morgens unterhalten und man dabei sitzen darf und dann weiß man alles über die Wohlwillstraße und das Straßenfest vom letzten Wochenende und über John Lennon und auch wenn man nicht dabei war, war man dabei.
Um neun gehe ich ins Büro. Und besser hätte der Start nicht sein können. Wir sind nicht in Italien, keine morgendliche Caffeebar-Kultur, aber der Kandie Shop auf St. Pauli ist vielleicht noch besser – die nordische Variante, eben ein Laden, in dem ich morgens 50 Cent gehört habe, und erst da ging mir auf, warum die alte Hiphop-LP oben auf dem Regal steht. Meine 50 Cent gebe ich dem Obdachlosen. Manchmal fällt der Groschen schnell wie eine Feder, aber hier gilt eine andere Gravitationskraft. Würde es dieses St. Pauli nicht geben, man müsste es erfinden. Ich will nicht in einem Café sitzen, das aussieht wie ein iPod von innen, ich will nicht in die »Systemgastro«, in der eine Kellnerin, die ihren Job hasst, auf einem Tablet die Bestellung speichert für nummerierte Tische. Ich will in den Kandie Shop, in genau diese gewachsenen, eigenen, besonderen, einzigartigen Räume und mit ihren besonderen Menschen; Teil einer städtischen Kultur, die es nicht mehr geben wird, wenn wir sie nicht schützen!