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Der kleine Schlingel Smoliček lebt mit seinem Großvater in einem Häuschen am Waldrand. Ein Zauber zwingt den Großvater tagsüber sein Dasein als Hirsch im Wald zu fristen. Er ermahnt Smoliček die Türe des Häuschens immer gut zuzusperren und niemanden hereinzulassen. Alles geht gut. Bis eines Tages eine Waldfee an die Türe klopft... Eine Geschichte über Neugier und Lebenslust und darüber Erfahrungen selbst machen zu müssen.
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13.09.2012

Der Hirnforsscher und Neurobiologe Gerald Hüther über Märchen

Barbara Lackermeier
Barbara Lackermeier19 min Lesezeit

Weshalb Kinder Märchen brauchen
Neurobiologische Argumente für den Erhalt einer Märchenerzählkultur

1. Einleitung:
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das ihr Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören läßt, das gleichzeitig seine Fantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus auch noch befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen, das gleichzeitig auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen läßt. Dieses Superdoping für Kindergehirne gibt es. Es kostet nichts, im Gegenteil, wer es seinen Kindern schenkt, bekommt dafür sogar noch etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen. Märchenstunden sind die höchste Form des Unterrichtens.

Das Lernen funktioniert bei Kindern (wie bei Erwachsenen) immer dann am besten, wenn es ein bißchen „unter die Haut geht“, wenn also die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden und all jene Botenstoffe vermehrt gebildet und freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern. Eine Möglichkeit, einen solch offenen, für das Lernen optimalen Zustand zu erreichen, ist das Spiel, in dem Kinder sich und die Welt entdecken. Eine andere, bei der Kinder lernen, etwas über die Welt und das Leben zu erfahren, ist die Märchenstunde. Die wirkt am besten, wenn das Märchen von jemandem vorgelesen oder erzählt wird, zu dem das Kind eine enge, vertrauensvolle Beziehung hat. Damit es richtig „im Bauch kitzelt“ (die emotionalen Zentren im Gehirn also anspringen, aber nicht gleich überschießen und „Alarm“ melden, weil das Kind in Angst und Schrecken versetzt wird), ist die Atmosphäre wichtig. Man kann dazu eine Kerze anzünden oder die Märchenstunde zu einem richtigen Ritual machen. Das hilft Kindern, Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren. Nur so können komplizierte Erregungsmuster in ihrem Gehirn aufgebaut und stabilisiert werden. Auch der Inhalt des Märchens muss „passen“. Ein bißchen furchtbar und aufregend darf es aber schon sein, wenn nur am Ende alles gut wird. Es ist auch nicht gleichgültig, wie ein Märchen erzählt oder vorgelesen wird. Das Kind muss merken, dass der Erzähler oder die Erzählerin selbst ebenfalls begeistert und betroffen, bestürzt oder erschüttert ist. Diese emotionalen Funken können nur überspringen, wenn das Kind immer wieder angeschaut und das jeweilige Gefühl auch zum Ausdruck gebracht wird. Dieser enge Kontakt zum Kind und die Rückversicherung, dass es noch emotional „dabei ist“, läßt sich beim Märchenerzählen besser erreichen, als beim Vorlesen. Rekorder oder Videogeräte sind in dieser Hinsicht gänzlich ungeeignet, denn solche Apparate können sich einfach nicht auf die Reaktionen oder Äußerungen des Kindes einstellen. Sie lassen die Kinder mit ihren Gefühlen allein. Das Zaubermittel sind also nicht die Märchen per se, sondern die emotionale Beziehung zum Inhalt und den Personen des Märchens, auf die sich das Kind beim Hören des Märchens mit der einfühlsamen Hilfe des Erzählers oder Vorlesers einlässt. Märchen sind also Kraftfutter für Kindergehirne.

Aber das ist noch nicht alles, denn im Gehirn derjenigen, die diese Märchen den Kinder erzählen oder vorlesen, passiert ja auch etwas. In seinem oder ihrem Gehirn werden alte Erinnerungen wach, nicht nur Erinnerungen an den genauen Inhalt der Geschichte, sondern vor allem Erinnerungen daran, wie es damals war, als einem als Kind diese Märchen vorgelesen worden sind. Dann wir die Atmosphäre von damals wieder wach, das schöne Gefühl, die Erfahrung der intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. Oft kommen sogar die alten Körpergefühle wieder, das Kuscheln, Schaudern und Kribbeln und der Sessel, das Sofa oder das Bett in dem einem die Märchen vorgelesen wurden. All das taucht erneut ganz deutlich spürbar aus dem im Hirn abgespeicherten Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil sie im Allgemeinen solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen wachrufen, machen die alten Märchen auch uns Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise wieder stark. Die innere Unruhe, die Sorgen und Ängste verschwinden. Man fühle sich dann irgendwie besser, gestärkter und zuversichtlicher, mutiger und befreiter, gleichzeitig gefestigter und verwurzelter. Märchen sind also auch Balsam für die Seelen von Erwachsenen.

Aber das ist noch immer nicht alles. Märchen transportieren nicht nur Geschichten, sondern auch die dazugehörigen Bilder, die in ihnen enthaltenen Botschaften von den Erwachsenen einer bestimmten Familie, Sippe, Gemeinschaft, also letztlich eines bestimmten Kulturkreises zu den in diesem Kulturkreis hineinwachsenden Kindern. Sie schaffen so eine gemeinsame Plattform von Vertrautem und Bekanntem, von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gestaltetem und innerhalb dieser Gemeinschaft sich ausbreitendem Wissen. Sie wirken daher Identität-stiftend und festigen auf diese Weise den Zusammenhalt einer Gemeinschaft.
Mit anderen Worten: Märchen sind auch Kitt für den Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft.

Wie die Hirnforscher in den letzten Jahren mit Hilfe ihrer neuen, bildgebenden Verfahren (funktionelle Kernspintomographie) zeigen konnten, werden die im menschlichen Gehirn angelegten Nervenzellverschaltungen als innere Repräsentanzen von Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern in viel stärkerem Maß als bisher angenommen durch eigene Erfahrungen herausgeformt. Die für die eigene und kollektive Lebensbewältigung entscheidenden Erfahrungen werden transgenerational weitergegeben (Weitergabe von Wissen, Überlieferung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, von Vorstellungen, Regelen und Bewertungsmaßstäben, von Haltungen und Orientierungen). Märchen sind ein wichtiges Instrument zur transgenerationalen Überlieferung wichtiger Botschaften zur eigenen Lebensbewältigung und zur Gestaltung von Beziehungen. Märchen, die Menschen einander erzählen, besitzen also eine strukturierende Kraft, die nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungsfähigkeit, Kreativität und Vorstellungswelt menschlicher Gemeinschaften, sonder auch auf die Strukturierung neuronaler Verschaltungsmuster und die Herausformung innerer Repräsentanzen (sog. innerer Bilder) im Gehirn der einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaften haben.

2. Die Bedeutung Sicherheit-bietender Bindungsbeziehungen für die Hirnentwicklung
Wenn Kinder zur Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen nicht nur jemanden, der sie wärmt, nährt, sauber hält und sich mit ihnen beschäftigt. Noch wichtiger ist es, dass immer dann, wenn sie Angst haben, jemand da ist, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, dass es möglich ist - und später auch, wie es möglich ist -, diese Angst zu überwinden. Wenn ein Kind das Glück hat, jemanden zu finden, der ihm in solchen Situationen regelmäßig hilft und ihm Geborgenheit und Sicherheit bietet, werden alle dabei aktivierten Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt. Auf diese Weise entsteht eine enge Bindung an die primäre(n) Bezugsperson(en).

Viele Eltern wissen das und festigen diese Bindung spielerisch, beispielsweise indem sie sich immer wieder kurzzeitig verstecken, um anschließend, genau dann, wenn das Kind Angst bekommt und nach der Mutter oder den Vater sucht, wieder aufzutauchen. Wenn Kindern das Gefühl vermittelt wird, dass sie in der Lage sind, die verschwundene Bezugsperson durch eine eigene Reaktion wieder herbeizuholen, wächst ihr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, bedrohliche Situationen meistern zu können. Auch die dabei aktivierten Verschaltungen werden gebahnt. So entsteht Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Bewältigung von Problemen. Im Verlauf der Entwicklung erweitert sich der Kreis sicherheit-bietender Bezugspersonen, und das Kind eignet sich sämtliche Kompetenzen, Grundhaltungen und Verhaltensweisen an, die diese Personen haben und die das Kind als für die Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung, d.h. für die Bewältigung von Angst und Stress wichtig bewertet. Je mehr es sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Kompetenzen erweitert und eigene Erfahrungen macht, desto stärker verlieren die frühen Bindungen ihre ursprüngliche sicherheit-bietende Bedeutung. Dramatisch verschärft wird diese Entwicklung während der Pubertät, wenn die dann einsetzende Produktion von Sexualhormonen zu tiefgreifenden Veränderungen des eigenen Körpers wie auch des bisherigen Denkens, Fühlens und Verhaltens führt. Am Ende dieses Entwicklungsweges ist aus dem anfänglich noch völlig abhängigen Baby ein sich selbst bestimmender, in ein komplexes Netz sozialer Beziehungen eingebundener Mensch geworden.
Leider klappt das nicht immer. Es gibt nicht wenige erwachsene Menschen, denen es nicht gelungen ist oder die nicht genügend Gelegenheit hatten, sich während ihrer Kindheit und Adoleszenz hinreichend viele eigene Kompetenzen anzueignen, vielfältige eigene Erfahrungen zu machen und das für eine autonome Entwicklung erforderliche Selbstvertrauen auszubilden. Sie bleiben entweder in einer abhängigen Beziehung zu ihren primären Bezugspersonen oder suchen sich Partner, mit denen sie diese abhängige Beziehung weiterführen können. Bekommen sie Kinder, so entwickeln sie auch zu diesen eine abhängige und abhängig-machende „Klammerbeziehung”.

Die wichtigste Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere ungeheuer wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungseinrichtung und um die Anschaffung und Zurschaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind so selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele eher hinderlich, und das kindliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung wird ihnen allzu leicht lästig. Meist tun diese Eltern ihre Pflicht, jedenfalls das, was sie für ihre Pflicht halten, und das bisweilen sogar besonders gut. Sie sorgen für eine besonders ausgewogene Ernährung, für Sauberkeit und angemessene hygienische Verhältnisse, ansprechende, modische Kleidung und beschaffen alle möglichen Gerätschaften, von denen sie glauben, sie seien wichtig für ihr Kind. Sie beruhigen ihr (schlechtes) Gewissen, indem sie das Kind nach Kräften verwöhnen. Was ihr Kind aber wirklich braucht, nämlich dass sie ganz und gar da sind, dass sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, das schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn sie es besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen.
Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie versuchen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser nur von ihnen selbst bestimmten Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich entwickelnden Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt. Sich Märchen erzählen zu lassen, lehnen sie dann meist ab.
Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies einen Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansichten und Haltungen bestimmt.
Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden umso nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer, vor allem denen Erwachsener ab. Ihr mangelndes Einfühlungsvermögen behindert sie beim Erwerb vielfältiger sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können.
Die Auswirkungen früher Bindungsstörungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sind im späteren Leben nur schwer korrigierbar. Kinder, die keine sicheren Bindungen ausbilden konnten, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu überwinden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ich-bezogen und bindungsunfähig. Manche haben Glück und finden einen Lehrer oder Erzieher, der sie versteht und ihnen hilft, allmählich wieder Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, das Vertrauen in menschliche Bindungen wiederzuerlangen und sich auf die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen einzulassen. Manche scheitern irgendwann an den selbstzerstörerischen Folgen ihrer pseudoautonomen Bewältigungsstrategien.

Die Bedeutung Sicherheit bietender Orientierungen für die Hirnentwicklung
Die frühkindlichen Bindungen sind nur der erste Schritt eines langen und komplizierten Sozialisationsprozesses. Im Verlauf dieses Prozesses lernt jedes Kind, sein Gehirn auf eine bestimmte Weise zu benutzen, indem es dazu angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als auf andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, also sein Gehirn allmählich so zu einzusetzen, dass es sich damit in der Gemeinschaft zurecht findet, in die es hineinwächst.
Die Hirnregion, in der die dafür zuständigen komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich geformt werden, ist eine, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Es ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und auf diese Weise von „unten“, aus tiefer liegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.
Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich, die mit bildgebenden Verfahren nachweisbar sind. Bei Kindern von drei bis sechs Jahren kommt es insbesondere in den frontokortikalen Hirnbereichen, die die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern, zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von sechs bis zwölf Jahren lässt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen kortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer messbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel „use it, or lose it“ bestimmt.
Das alles heißt, dass nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsperiode darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängt also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Nutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muss, dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden.
Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tieferliegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten werden, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, dass es möglich ist, Probleme mit Hilfe anderer (der Eltern) zu lösen. Märchen bieten dazu wichtige Orientierungshilfen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Sie bleiben selbstbezogen, trotzig, tyrannisch. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ichfunktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Selbstbewusstsein ist nur schwach ausgeprägt, ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln, sich bestimmten Denkweisen und Haltungsformen anzupassen. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehen geblieben.
In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln. So geht es beispielsweise Kindern, die täglich viele Stunden vor einem Fernsehgerät zubringen. Zur Passivität verurteilt werden sie mit bunten Bildern, Handlungsfetzen, Aktionsbruchstücken und ständig neuen, emotional erregenden Eindrücken und angstauslösenden Vorstellungen . Auf ihre Fragen bekommen sie keine Antworten, ihre Vorschläge hört niemand, sie können nichts ändern, nichts verhindern und auch nicht helfend eingreifen. Was in ihnen zurückbleibt, ist die Erfahrung, dass es auf ihr eigenes Denken und Handeln nicht ankommt, dass ihre selbständige Suche nach Lösungen nutzlos ist, dass das Geschen abläuft, ohne dass sie selbst darauf Einfluss nehmen können. Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Konsumenten, die immer nur etwas von anderen haben wollen. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen das Gefühl, dass sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben allzu oft allein, finden keine Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiter entwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.
Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Ihre Wahrnehmungen können Kinder nur dann integrieren, wenn diese in einem zusammenhängenden Kontext erlebt werden. Neue Wahrnehmungen müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Ein Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen einprasseln, ist schon für Erwachsene unerträglich, für Kinder erst recht. Er macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muss, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann.
Es mag noch mehr Faktoren geben, die dazu beitragen, da es heute auffällig vielen Kindern nicht gelingt, hinreichend komplexe Verschaltungen in ihrem Frontalhirn auszuformen und zu stabilisieren. Aber all diese Einflüsse zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Sie helfen dem Kind nicht, eine brauchbare Antwort auf die Frage zu finden, worauf es im Leben ankommt. Sie sagen entweder: „Auf alles!“ oder „Auf gar nichts“ oder sie behaupten gar, dass das keine vernünftige Frage sei. Für Kinder und Jugendlichen sind alle drei Antworten gleichermaßen fatal. Sie brauchen so etwas wie ein fernes Ziel, eine Vorstellung oder wenigstens eine Vision davon, weshalb sie auf der Welt sind, wofür es lohnt, sich anzustrengen, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich möglichst viel Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Wer keine Ahnung davon hat, wohin die Reise gehen soll, weiß auch nicht, was er sich besorgen und in seinen Koffer packen müsste. Das einzige, was Kinder und vor allem Jugendliche unter diesen Bedingungen tun können, heute dieses und morgen jenes nach ihrem eigenen Gutdünken in den Koffer zu stecken, bis dieses sinnlose Tun sie so sehr „anstinkt“, dass sie den ganzen Koffer angewidert in die Ecke werfen und „Null Bock“ haben.
Die Suche nach Orientierung, nach einer Sinngebung für das eigene Leben ist dann zwangsläufig auch zu Ende. Was erhalten bleibt, ist der (natürliche) Hang zur Bequemlichkeit und zum Konsumieren. Das „Ich“ wird nun zum einzigen Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Wer dort angekommen ist, hat auch keine Lust mehr erwachsen zu werden, geschweige denn, sich Märchen anzuhören.

Damit es Kindern gelingt, sich im heutigem Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene „Vorbilder“ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden. Bildung kann nicht gelingen,

wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft),
wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (passiver Medienkonsum),
wenn Kinder keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung),
wenn Kinder mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überforderung),
wenn Kinder daran gehindert werden, eigene Erfahrungen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen zu machen (Verwöhnung),
wenn Kinder keine Anregungen erfahren und mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung).

Das Gehirn, so lautet die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher, lernt immer, und es lernt das am besten, was einem Heranwachsenden hilft, sich in der Welt, in die er hineinwächst, zurecht zu finden und die Probleme zu lösen, die sich dort und dabei ergeben.

Wenn keine Märchen mehr erzählt würden......
Damit nun auch diese Frage klar beantwortet werden kann, brauchen wir uns nur umzuschauen, und zu fragen, was passiert, wenn Kinder zu viel von dem bekommen, was sie haben wollen und zu wenig von dem, was sie brauchen. Schon das ungeborene Kind macht im Mutterleib Erfahrungen, die in seinem Gehirn dazu führen, dass die Nervenzellen bestimmte Verschaltungsmuster miteinander ausbilden. Die werden dann später als innere Repräsentanzen, als „Erinnerungsbilder“ benutzt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dabei werden diese einmal entstandenen Muster ergänzt und erweitert. Da es sich bei all diesen im Gehirn verankerten Erfahrungen um typisch menschliche, von diesem Kind gemachte Erfahrungen handelt, bildet sich auf diese Weise das heraus, was wir „menschliche Individualität“ nennen. Alle Säugetiere, ja sogar Vogelküken im Ei machen auch schon spezifische Erfahrungen, bevor sie auf die Welt kommen. Bei Hühner- oder Entenküken ist das gut zu beobachten. Bevor sie schlüpfen „unterhalten“ sie sich bereits mit ihrer Mutter. Sie piepsen aus dem geschlossenem Ei heraus und die Mutter antwortet ihnen. Wenn sie auf die Welt kommen, haben sie also auch schon eine Individualität, keine menschliche sondern eben die eines Enten- oder Hühnerkükens. Bei Singvögeln, z. B. bei den Nachtigallen, reift später, wenn die kleinen Vögel noch im Nest sitzen, das sog. Gesangszentrum in ihrem Hirn aus. Hier bilden die Nervenzellen zunächst ein dichtes Gestrüpp an Vernetzungen und Verschaltungen aus. Immer dann, wenn der Vater in der Nähe des Nestes seine Lieder singt, entsteht in diesem Wirrwarr von Verschaltungen ein durch das Hören des Liedes ausgelöstes charakteristisches Aktivierungsmuster. Je häufiger das geschieht, desto fester werden die dabei aktivierten Nervenzellverschaltungen miteinander verbunden, und je komplexer der Gesang ausfällt, desto komplexer können die auf diese Weise stabilisierten inneren Repräsentanzen herausgeformt werden. Alle anderen nicht benutzten Verschaltungen werden wieder abgebaut. Was übrig bleibt, ist ein bestimmtes, durch das Hören des Gesangs herausgeformtes, diesen Gesang repräsentierendes neuronales Verschaltungsmuster im Gesangszentrum des Nachtigallengehirns. Damit diese Verschaltungen herausgeformt und stabilisiert werden können, muss der Vater in der Nähe des Nestes singen, möglichst oft, möglichst kunstvoll und fantasiereich - und ungestört durch Nebengeräusche (deshalb singen Vögel, die so komplizierte Gesänge wie die Nachtigallen an ihre Jungen weitergeben müssen, nachts, wenn alle anderen still sind). Und damit die Jungen diesen Gesang auch wirklich in sich aufnehmen können, darf natürlich nicht ständig jemand kommen und im Nest herumrühren. Wenn die Nachtigalleneltern ihnen ihre Lieder nicht mehr ungestört vorsängen, würde also genau das verschwinden, was die Nachtigall ausmacht.

Und wenn wir uns entschließen würden, unseren Kindern keine Märchen mehr zu erzählen, verschwände eben all das, was durch das Märchenerzählen stabilisiert wird. Und wer vergessen hat, was das ist, der muss noch einmal von vorn anfangen.

12.10.2012

WOW!

Barbara Lackermeier
Barbara Lackermeier1 min Lesezeit
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