Spot on Edition Azur
Heute stellen wir Euch Helge Pfannenschmidt vor. Er ist Verleger der Edition Azur im Zentralwerk. Lest hier zu seinem aktuellen Projekt Das Gedicht und sein Double:
Die Lyrik ist das spannendste Feld der Gegenwartsliteratur: Nirgendwo sonst wird mit so hohen Einsätzen gespielt – und nirgendwo sonst fallen Leben und Schreiben so häufig in eins. Könnte es also einen besseren Ort für die edition AZUR geben als das Zentralwerk? Nach dem ich jetzt 18 Monate von dort aus meine Bücher mache, muss ich sagen: schwer vorstellbar. Zu gut passt das Selbstverständnis des Verlags, mit den Mitteln der Poesie die Idee eines anderen Denkens und Lebens zu befeuern, hierher.
Zudem gibt dieser Ort, an dem scheinbar Unmögliches möglich wird, Kraft und Energie für ambitionierte Projekte:
Gerade arbeiten wir an einem aufwendigen Band, der fotografische Porträts und dichterische Selbstporträts gegenüberstellt und so die unendliche Suchbewegung zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung in Gang setzt. Das Gedicht & sein Double wird der Band heißen, und beteiligt sind einige der bekanntesten Lyriker/-innen der Gegenwart: Nora Gomringer, Lutz Seiler, Lydia Daher, Durs Grünbein, Volker Braun, Paulus Böhmer und bis zu 100 andere. Es wird eine Sammlung, die ihresgleichen sucht: vielstimmig, lebendig und widersprüchlich wie die Szene selbst.
Wie sich das liest? Hier ein Auszug:
Adrian Kasnitz: Neununddreißig
Die Prozedur, die dich jünger aussehen lässt
die Telefone, die du nebeneinander legst, zu Paaren
Rufton auf stumm, die Wimpern gerichtet
die Brauen auf kraus gestellt, die Wünsche
die als Blasen steigen, Ballons und Schirmchen
ein großes Peng und alle Geschenke platzen
alles Gestrüpp, in das du in neununddreißig
Schritten geraten bist, brennt lichterloh
Flamme, Glut und Asche die treuen Freunde
packen Macheten aus, schlagen dich frei
Lydia Daher
Sich so sehen, D., ist wie Arbeit mit Wildtieren.
Grenzbereich, Restrisiko – selbst wenn du nickst,
es ist nicht wahr. Kein Schnee, dafür Tarnung, Haar,
Unsicherheit. Sich in die Fußspuren eines Fotos begeben,
heißt: damit leben. Oder dran kratzen, bis was Größeres
zum Vorschein kommt. Ich gebe zu, ich übe mich.
Dies hier, begehrte Begrenztheit, bin ich. Ein Ich,
das immer noch mal ist. Oder schon immer vorbei.
Unser Bemühen, D., ein leichtes Vergehen,
diese Anstrengung, als müsste man jeden Moment
neu aufwachen, als müsste man hier an diesem Ort
das ganze Universum ausfüllen, dabei bloß
Biegung eines Knies sein wollen, Hand, die links
die Tasche hält, ein kümmerlicher Kragen, Gähnen,
Tränenfilm. Dort stand man, dort harrte man aus,
korrigierte sich, bis man sich ähnlich wurde. Bis man
sich selbst nicht mehr erkannte. Ein Gatter, die Geste,
weder Gaffer noch Wolken noch richtiges Licht,
dafür eine Linde, eine Mauer, ein Mund –
In sein eigenes Gesicht hinabzusteigen, sich
ins Auge zu kommen wie eine falsche Erscheinung –
ein kalter Stich, der trifft, und es genügt nicht,
dass man einen Riss macht: Dies, mein abgewogenes
Geben, dies, mein Lächeln nach den Blitzen.
Und irgendwas, das man doch sagen
wollte und nicht konnte.
Fotos Adrian, Lydia beide by Dirk Skiba