Realitätsflucht: das gerade gegenwärtig brandgefährliche Phänomen!
Hannah Arendt (*14. Oktober 1906, als Johanna Arendt in Linden, einem heutigen Stadtteil von Hannover; † 04. Dezember 1975 in New York City) war jüdisch deutsch-US-amerikanische, politische Theoretikerin und Publizistin und ist für jurawatch e. V. sowohl eng mit Fritz Bauer , als auch den 12. Artikeln Memmingen 1525 verbunden.
Gerade wegen ihres eigenständigen Denkens, der Theorie der totalen Herrschaft, ihrer existenzphilosophischen Arbeiten und ihrer Forderung nach freien politischen Diskussionen nimmt sie in den Debatten der Gegenwart eine bedeutende Rolle ein. Sie verachtete diejenigen deutschen Intellektuellen, die sich ab 1933 Adolf Hitler zuwandten, während heute vielmehr versucht wird, die Intellektuellen und Künstler zu verunglimpfen, welche ich gegen Kriegstreiberei aussprechen.
Sie stand rein repräsentativen Demokratien kritisch gegenüber und bevorzugte Rätesysteme, sowie Formen direkter Demokratie.
Ihre öffentlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren unter Gegnern und Freunden häufig umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft, insbesondere ihre Arbeit zum Eichmann-Prozess.
Schon 1931 ging Arendt davon aus, dass die Nationalsozialisten an die Regierung kommen würden, dachte 1932 an Emigration, blieb jedoch zunächst in Deutschland und wurde erstmals politisch aktiv.
Bereits 1933 vertrat sie die Auffassung, dass das nationalsozialistische Regime aktiv zu bekämpfen sei.
Sie stand damit im Gegensatz zu vielen gebildeten Deutschen, teilweise sogar mit jüdischem Hintergrund, die sich mit dem NS-Regime arrangieren wollten, die neuen Herrscher manchmal sogar lobten oder die Diktatur zunächst unterschätzten.
Im Gaus-Interview drückte sie ihre Verachtung für die umgehende – damals noch freiwillige – Gleichschaltung der meisten Intellektuellen aus.
Arendt war davon abgestoßen und wollte mit dieser Art von affirmativen, opportunistischen oder sogar begeisterten Gelehrten nichts gemein haben.
In dem Essay Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes schreibt Arendt 1950 sehr differenziert über die Nachkriegssituation. Deutschland habe in kurzer Zeit durch Verbrechen, die Niemand für möglich gehalten hätte, das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört. Millionen von Menschen aus Osteuropa strömten in das zerstörte Land. „Man kann bezweifeln, ob die Politik der Alliierten, alle deutschen Minderheiten aus nichtdeutschen Ländern zu vertreiben – als ob es nicht schon genug Heimatlosigkeit auf der Welt gäbe – klug gewesen ist; doch außer Zweifel steht, dass bei denjenigen europäischen Völkern, die während des Krieges die mörderische Bevölkerungspolitik Deutschlands zu spüren bekommen hatten, die bloße Vorstellung, mit Deutschen auf demselben Territorium zusammenleben zu müssen, Entsetzen und nicht bloß Wut auslöste.“ Sie stellt eine seltsame Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung fest. Über Europa liege wegen der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager ein Schatten tiefer Trauer. Doch dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken werde nirgends weniger besprochen als in Deutschland. „Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg begann Arendt mit der Arbeit an einer umfassenden Studie über den Nationalsozialismus, 1948 und 1949 ausgeweitet auf den Stalinismus. Das Buch enthält die drei Teile Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft.
Sie stellt die neuartige und viel diskutierte These auf, dass sich totalitäre Bewegungen jeder Weltanschauung und Ideologie bemächtigen und sie durch Terror in eine neue Staatsform überführen können. Geschichtlich vollständig realisieren konnten dies ihrer Ansicht nach bis 1966 lediglich der Nationalsozialismus und der Stalinismus.
Sie stellt die neue Qualität der totalen Herrschaft gegenüber gewöhnlichen Diktaturen heraus. Erstere beziehe sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, nicht nur auf die politischen. Im Zentrum stehe eine Massenbewegung.
Im Nationalsozialismus habe eine völlige Verkehrung der Rechtsordnung geherrscht. Verbrechen, Massenmorde seien die Regel gewesen. Neben dem Terror hält sie das Streben nach Weltherrschaft für ein wichtiges Kennzeichen der totalen Herrschaft.
Sie arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund der Massengesellschaft und des Zerfalls der Nationalstaaten durch den Imperialismus traditionelle Politikformen, insbesondere die Parteien, den totalitären Bewegungen mit ihren neuen Techniken der Massenpropaganda unterlegen waren.
Immer wieder zeigte sie persönlichen Mut, z. B. durch ihre praktischen Tätigkeiten für jüdische Organisationen während der Zeit des Nationalsozialismus. Ihre öffentlichen und persönlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren häufig unter Gegnern, aber auch Freunden umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft.
Zur Adenauer-Ära in Deutschland äußerte sie sich mehrmals kritisch. Nachdem zunächst NS-Täter kaum bestraft worden seien, wurden nach dem Eichmann-Prozess langsam die schlimmsten vor Gericht gestellt. „Ein böses Zeichen sind die unglaublich milden Urteile der Gerichte. Ich glaube für 6500 vergaste Juden bekommt man 3 Jahre 6 Monate, oder so ähnlich […]. Diese sogenannte Republik ist wirklich ‚wie gehabt‘. Und über diese politischen Dinge wird auch die wirtschaftliche Entwicklung auf die Dauer nicht hinweghelfen.“
1961 nahm Arendt von April bis Juni als Reporterin der Zeitschrift The New Yorker am Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem teil. Daraus gingen zunächst Reportagen hervor und schließlich eines ihrer bekanntesten und damals bis heute sehr umstrittenen Bücher Eichmann in Jerusalem mit dem Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Es wurde 1963 zunächst in den USA und kurz darauf in der Bundesrepublik veröffentlicht. „In diesen letzten Minuten war es, als zöge Eichmann selbst das Fazit der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit, der wir beigewohnt hatten – das Fazit von der furchtbaren »Banalität des Bösen«, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert.“
Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, Alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte Eichmann überhaupt keine Motive.“ Niemals hätte er seinen Vorgesetzten umgebracht. Er sei nicht dumm gewesen, sondern “schier gedankenlos“. Dies habe ihn prädestiniert, zu einem der größten Verbrecher seiner Zeit zu werden. Man könne ihm beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen. Trotzdem sei er nicht alltäglich. „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.
Die Art des Verbrechens war Arendt zufolge nicht einfach kategorisierbar. Was in Auschwitz geschah, sei beispiellos gewesen. Den vom “englischen Imperialismus“ herkommenden Ausdruck “Verwaltungsmassenmord“ hielt sie für der Sache angemessener als den Begriff “Völkermord“. Auch wandte sie sich dagegen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sprechen, und prägte den Terminus Verbrechen gegen die Menschheit. Das den Nürnberger Prozessen zu Grunde liegende Londoner Statut hat […] die »Verbrechen gegen die Menschheit« als »unmenschliche Handlungen« definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an »Menschlichkeit« fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.“ Neben ihren Überlegungen zur Banalität des Bösen führte auch ihre Darstellung der Rolle der Judenräte im Prozess der Vernichtung zu kontroversen Debatten. Laut Arendt habe Eichmann “Kooperation“ von den Juden verlangt und sie in “wahrhaft erstaunlichem Maße“ erhalten. Auf dem Weg in den Tod hätten die Juden nur wenige Deutsche gesehen. Die Mitglieder der Judenräte hätten von den Nationalsozialisten eine “enorme Macht über Leben und Tod“ bekommen, “so lange, bis sie selbst auch deportiert wurden“. So seien beispielsweise die Transportlisten nach Theresienstadt vom Judenrat zusammengestellt worden.
Sie unterstrich, wie wichtig die Rolle Dänemarks im Zweiten Weltkrieg gewesen sei, als es gelang, durch politischen Druck (auch durch den König) und Druck der öffentlichen Meinung die Juden, die sich in Dänemark aufhielten, vor der Deportation durch die Nationalsozialisten zu bewahren. “Nirgendwo sonst war das passiert.“
Arendt postuliert, dass die Menschen von Natur aus weder gut noch böse sind. Allein das Individuum trägt ihrer Auffassung nach die Verantwortung für seine Taten. Daher müssen Verbrechen, aber auch politische “Lügen“ geahndet werden. In Staaten mit einer Verfassung, die das politische Leben regelt, sei es für den Einzelnen leichter, sich nach “moralischen Maßstäben“ zu verhalten, als in “finsteren Zeiten“. Umso schwerwiegender sei das Denken, Urteilen und Handeln gerade in nicht demokratischen Herrschaftsformen.
Für sie ist die totale Herrschaft ein System, in dem der bisherige Moralkodex umgedeutet wird.
„Denn so wie Hitlers ‚Endlösung‘ in Wirklichkeit bedeutete, dass die Elite der Nazipartei auf das Gebot ‚Du sollst töten‘ verpflichtet wurde, so erklärte Stalins Verlautbarung das ‚Du sollst falsches Zeugnis reden‘ zur Verhaltensregel für alle Mitglieder der bolschewistischen Partei.“
Hannah Arendt hinterließ kein “Alterswerk“. Sie entfaltete vielmehr stetig ihr politisches Denken und zeigte häufig Zivilcourage. Tiefe Brüche gab es dabei nicht. Trotz der äußeren Umwälzungen, vor allem durch das Auftreten des Totalitarismus, ist ihr Gesamtwerk in sich geschlossen und birgt nur wenige grundsätzliche Korrekturen. Hannah Arendt wurde neben der ihres Mannes Heinrich Blücher auf dem Friedhof des Bard College begraben.